Viele Diabetiker sind auf Insulininjektionen angewiesen. Nun haben Wissenschaftler eine Insulinpille entwickelt, die bei Ratten äußerst effektiv den Blutzuckerspiegel senken kann. Lästige und schmerzhafte Insulinspritzen könnten bald der Vergangenheit angehören.
Vor etwa 100 Jahren gelang es Wissenschaftlern erstmals, Insulin aus Pankreasgewebe zu gewinnen. In den 1960er Jahren konnte der Stoff chemisch synthetisiert werden, etwa 20 Jahre später gelang die großtechnische Produktion von Humaninsulin mithilfe gentechnisch veränderter Bakterien. In den 90ern folgte die Herstellung des ersten schnell wirksamen Insulinanalogons – doch trotz aller Produktionsfortschritte musste der Blutzuckersenker bisher immer gespritzt werden.
Nun berichten Wissenschaftler im Journal „Biomacromolecules“ von einem Meilenstein auf dem Weg zur langersehnten Insulinpille. Diese könnte Diabetikern nicht nur den schmerzhaften Pieks ersparen, sondern auch ‚spritzmüden‘ Patienten dabei helfen, ihre Insulindosis rechtzeitig zu erhalten. Mehr als 385 Millionen Menschen weltweit sollen laut Schätzungen der Internationalen Diabetes Federation (IDF) bereits unter der Stoffwechselstörung leiden, in Deutschland sind es etwa 6 Millionen. Viele davon profitieren von einer Insulintherapie.
Insulin lässt sich aber nicht so einfach in eine Pille verpacken, die durch den menschlichen Verdauungstrakt transportiert wird, um dann unversehens ihre Wirkung entfalten zu können. Bevor Insulin überhaupt den Blutzucker senken kann, wird das Protein von den Enzymen in Magen und Darm abgebaut. Auch die für Insulin relativ undurchlässige Darmwand des Menschen stellt dabei eine große Herausforderung dar, den Blutzuckersenker oral verfügbar zu machen. Dabei wäre das dringend nötig, denn „Patienten lassen gelegentlich Insulindosen aus oder verabreichen sich ihr Insulin gar nicht mehr, weil sie Angst vor den Spritzen haben“, berichten die Wissenschaftler um Sanyog Jain vom Zentrum für pharmazeutische Nanotechnologie in Nagar, Indien. Das kann verheerende Folgen haben. Auch andere Darreichungsformen werden derzeit intensiv beforscht. „Denkbar wäre es, Insulin über die Lunge, die Nase, die Haut, bukkal oder oral zu verabreichen“, schreiben die Forscher. Eine Insulinpille halten sie jedoch für den angenehmsten Weg, da sich dadurch eine periphere Hyperinsulinämie, eine transiente Hypoglykämie und eine Gewichtszunahme vermeiden ließen. „Oral verabreichtes Insulin wäre nicht nur angenehmer in der Anwendung, sondern wird auch ähnlich dem natürlich ausgeschütteten Insulin verwertet“, erklärte Sanyog Jain gegenüber DocCheck. Um Insulin vor dem Angriff von Verdauungsenzymen zu schützen und es dann in den Blutstrom zu schleusen, kombinierten die Wissenschaftler zwei Ansätze.
Zunächst verpackten sie den Blutzuckersenker in kleine Lipidsäckchen, den Liposomen, die bereits in anderen Therapien erprobt wurden. Neben polymerischen Nanopartikeln, Emulsionen und Hydrogelen eignen sich Liposomen besonders gut, um eine schützenswerte Substanz sicher durch die harsche Umgebung des menschlichen Verdauungstraktes zu manövrieren. Die M-Zellen schleusen Liposomen gut und gerne durch die menschliche Darmwand. „Liposomen gelten als äußerst biokompatibel und sind leicht abbaubar. Außerdem können sie größere Mengen sowohl hydrophiler als auch hydrophober Substanzen transportieren. Auch die großtechnische Produktion ist bereits gut etabliert“, beschreiben die Forscher die Vorteile der Trägersubstanz.
Im Milieu des Magens neigen Liposomen allerdings dazu, sich zusammenzulagern. Außerdem müssen sie vor Gallensalzen und Lipasen aus der Bauchspeicheldrüse geschützt werden. Daher verpackten die Wissenschaftler ihre Liposomen in mehreren Schutzschichten aus gegensätzlich geladenen Polyelektrolyten, die sie widerstandsfähiger und leichter zu lagern macht. Um dieser Konstruktion den Übergang in den Blutstrom zu erleichtern, hefteten die Wissenschaftler Folsäure auf deren Oberfläche. Über die zahlreichen Folsäurerezeptoren im Gastrointestinaltrakt des Menschen können die Liposomen in großer Anzahl den Blutkreislauf erreichen.
Die fertige Insulinpille testeten die Wissenschaftler zunächst auf ihre Stabilität in verschiedenen biologischen Flüssigkeiten. Dann erprobten sie ihre Wirksamkeit an Ratten. Und in der Tat: Im Tierversuch konnte die Insulinpille den Blutzuckerspiegel fast genauso gut senken wie subkutan verabreichtes Insulin. Die blutsenkende Wirkung der Insulinpillen hielt sogar länger an (bis zu 18 Stunden) als die des konventionell verabreichten Insulins (bis zu 12 Stunden). Sanyog Jain und seine Kollegen sind gerade dabei, einen geeigneten industriellen Partner für ihre Insulinpille zu finden. Und dann hätte das lästige Pieksen vielleicht bald ein Ende …