Vor 120 Jahren begann mit der großtechnischen Herstellung von Acetylsalicylsäure ein wahrer Siegeszug. ASS schützt Patienten Studien zufolge vor koronaren Ereignissen sowie Krebs und wirkt gegen Depressionen. Kann man mit Aspirin (fast) alles heilen?
Wunderpillen gibt es nicht. Dem Wunsch, mit einer Tablette viele Krankheiten zu besiegen, könnte Acetylsalicylsäure (ASS) aber recht nahekommen. Forscher sehen aufgrund entzündungshemmender Effekte sogar Einsatzmöglichkeiten bei der Behandlung therapieresistenter Depressionen.
Das kam so: Andrew Miller und Kollegen der Emory University School of Medicine vermuteten schon länger, dass chronisch-inflammatorische Prozesse neben anderen Faktoren eine Major-Depression auslösen. Sie fanden im Blut vieler Patienten Entzündungsmarker wie das C-reaktive Protein (CRP), die Interleukine IL-6 und IL-1beta sowie den Tumornekrosefaktor TNF-α. Millers erster Versuch, den TNF-Antagonisten Infliximab einzusetzen, enttäuschte eher. Patienten mit Depressionen hatten im Vergleich zu Placebo keinen signifikanten Mehrwert von der Therapie. Acetylsalicylsäure © 28Smiles / CC SA 4.0 Die Idee, ASS aufgrund seiner antiinflammatorischen Effekte einzusetzen, war geboren. Bis zur ersten klinischen Studie mit dem Molekül sollte aber noch etwas Zeit vergehen, denn es ging erst mal mit Grundlagenforschung weiter. Per Magnetresonanztomographie fand Miller Hinweise, dass Entzündungen mit einer fehlerhaften Kommunikation zwischen zwei Gehirnregionen assoziiert sind. Es handelt sich um das ventrale Striatum (VS) und den ventromedialen präfrontalen Kortex (vmPFC): © Felger et al, Molecular Psychiatry
Um die Entzündungshypothese zu verifizieren und um möglichen Pharmakotherapien den Weg zu ebnen, hat Harald Engler vom Uniklinikum Essen freiwilligen Probanden geringe Mengen Endotoxin oder Placebo gegeben. Endotoxin löst Entzündungen aus. Die Spiegel an IL-6 (Interleukin 6) erhöhten sich erwartungsgemäß. Je mehr IL-6 Engler fand, desto depressiver waren seine Studienteilnehmer. In einer anderen Studie zeigte sich, dass sich der Effekt von stressbedingt ausgeschüttetem IL-6 durch Antikörper aufheben lässt – zumindest bei Mäusen. Das berichtet Kenji Hashimoto. Er arbeitet am Chiba University Center for Forensic Mental Health, China. Der Wissenschaftler schränkt jedoch ein, noch sei unklar, ob sich die Ergebnisse auf Menschen übertragen ließen. Genau diese Frage untersuchen Forscher jetzt im Rahmen mehrerer klinischer Studien. Sie setzen bei Depressionen ASS versus Placebo ein. Neben dem Salicylsäurederivat eignen sich auch andere Wirkstoffe, die entzündungshemmend wirken, etwa das Antibiotikum Minocyclin. Erste Resultate werden im kommenden Jahr erwartet.
ASS wirkt nicht nur antiinflammatorisch, sondern auch als Thrombozytenaggregationshemmer. Diese Eigenschaft schätzen Ärzte bei der Sekundärprävention von Herz- und Hirninfarkten. Gastrointestinale Blutungen machen den Einsatz allerdings riskant. ASS schädigt wie andere nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) die Magenschleimhaut. Es kommt zur Ulzeration und auch zu Blutungen. Das liegt an der verminderten Synthese von Prostaglandin E2 (PGE2), einem Molekül mit protektiven Eigenschaften. Es reduziert die Sekretion von Magensäure und kurbelt die Sekretion von Magenschleim an. Für Ärzte bleibt zu klären, welche Patienten bei einer prophylaktischen ASS-Einnahme besonders gefährdet sind. Dieser Frage ging Linxin Li von der University of Oxford auf den Grund. Sie schloss 3.166 Patienten mit unterschiedlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ASS-Prophylaxe in ihre Kohortenstudie ein. Protonenpumpenhemmer (PPI) als Magenschutz gehörten nicht zur Standardmedikation. Sie begleitete alle Teilnehmer über zehn Jahre hinweg. Manche Probanden schieden aus, andere starben. Innerhalb von 13.509 Patientenjahren traten 405 Blutungsereignisse auf. Das Risiko schwerer bis tödlich verlaufender Blutungen stieg mit dem Alter. Meist war der Gastrointestinaltrakt betroffen. „PPI können das Risiko minimieren“, resümiert Li. Sie gibt als statistischen Wert für die Pharmakotherapie die number needed to treat (NNT) an. Darunter versteht man die Zahl an behandelten Personen, um eine Blutung zu verhindern. Bei Patienten, die jünger als 65 Jahre waren, lag der NNT bei 338. Das heißt, Ärzte geben 338 Personen PPI, um eine Blutung zu verhindern. Bei Patienten, die älter als 84 Jahre waren, lag der NNT bei 25. „Deshalb lohnt sich speziell bei älteren Patienten der Magenschutz“, schreibt die Wissenschaftlerin.
Die Problematik rund um Nebenwirkungen bleibt nicht ohne Folgen. Schätzungsweise jeder fünfte bis zehnte Patient setzt niedrig dosierte ASS in den ersten drei Jahren nach seinem Herzinfarkt ab. Hinzu kommt, dass sich Betroffene gesund fühlen und nicht verstehen, warum eine prophylaktische, dauerhafte Arzneistoffgabe sinnvoll ist. Johan Sundström von der Universität Uppsala wollte wissen, welche Effekte die Non-Compliance nach sich zieht. Basis seiner Arbeit war eine Kohorte mit 601.527 Patienten mit unterschiedlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Kardiologen hatten in allen Fällen zur Vorbeugung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen niedrig dosierte ASS verordnet. Manche Personen nahmen ihre Medikation ernst, andere setzten die Pillen eigenmächtig ab. Während des Follow-ups von drei Jahren traten insgesamt 62.690 Ereignisse auf. Je nach Therapietreue gab es erhebliche Unterschiede. Setzten Patienten ihr Pharmakon innerhalb von 36 Monaten ab, erhöhte sich ihr kardiales Risiko um 37 Prozent. Um dies zu vermeiden, sollten Ärzte und Apotheker besser beraten, konstatiert der Erstautor.
ASS schützt aber nicht nur vor kardiovaskulären Ereignissen, sondern spielt auch in der Darmkrebsprävention eine Rolle. Peter M. Rothwell von der University of Oxford zeigte, dass selbst niedrige Dosen von 75 mg pro Tag das Risiko eines Kolonkarzinoms um 76 Prozent senkten. Basis seiner Arbeit waren mehrere Kohorten mit 14.033 Teilnehmern ohne Kolonkarzinom in der Vorgeschichte und einem Follow-up von 18,3 Jahren. Andere NSAR, beispielsweise Celecoxib und Sulindac, schützen effektiver als ASS, gehen aber auch mit deutlich stärkeren Nebenwirkungen einher. Molekülmodell des KRAS-Proteins © Thomas Splettstoesser / Wikipedia, CC BY SA 4.0 Darüber hinaus eignet sich ASS zur Rezidivprophylaxe. Polly Newcomb, Forscherin am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle, nahm Daten von 2.419 Darmkrebs-Patienten unter ihre Lupe. Wer ASS oder andere NSAID schluckte, verringerte sein Gesamtsterberisiko um 25 Prozent. Das Risiko, an Darmkrebs zu sterben, nahm sogar um 56 Prozent ab. Überraschenderweise fand Newcomb heraus, dass die Pharmakoprophylaxe nur wirkt, falls frühere Tumore die unmutierte Form von KRAS exprimiert hatten. Dieser Abschnitt im Erbgut steht mit der Proliferation von Krebszellen in Verbindung. Protoonkogene wie KRAS werden erst durch Mutationen im negativen Sinne aktiv. Dann stellen sie veränderte Proteine her, die Zellen proliferieren und länger überleben lassen. Wie es dazu kommt, dass sich nur „Wildtyp“-KRAS als pharmakologische Zielstruktur eignet, kann Newcomb nicht sagen. Auch 120 Jahre nach Beginn der industriellen Synthese von ASS versuchen Wissenschaftler, dem Molekül weitere Geheimnisse zu entlocken.