An Angststörungen leiden in Deutschland etwa 15 Prozent der Erwachsenen. Neu entdeckte Varianten eines Gens erhöhen das Risiko für eine Panikstörung. Die Entdeckung könnte Grundlage für neue Therapien sein, die besser auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sind.
An Angststörungen leiden in Deutschland etwa 15 Prozent aller Erwachsenen. Manche verspüren extreme Angst vor Spinnen, andere bekommen in engen Räumen oder in Menschenansammlungen Atemnot und Herzrasen. Einige erleben die Angstzustände aber auch ohne konkreten Anlass. Für viele Betroffene ist der normale Alltag stark beeinträchtigt – sie haben oft Probleme im Beruf und ziehen sich aus sozialen Kontakten zurück. „Angst ist eigentlich eine normale physiologische Reaktion, die jeder von uns in gefährlichen Situationen entwickelt, die aber nicht unsere Lebensqualität wesentlich beeinflusst“, sagt Andreas Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. „Bei Patienten mit einer Panikstörung tritt Angst dagegen ohne Grund oder bei nicht bedrohlichen Reizen auf.“ Frühere Studien haben gezeigt, dass Panikstörungen familiär gehäuft auftreten und genetische Faktoren zum Ausbruch der Krankheit beitragen. Bislang sind jedoch nur wenige Risikogene bekannt. Gleiches gilt für die molekularen Mechanismen, die die Panikstörungen auslösen: Auch hier tappen die Forscher noch weitgehend im Dunkeln.
Nun hat eine Forschergruppe um Andreas Reif und Jürgen Deckert ein weiteres Gen aufgespürt, das das Risiko für Panikstörungen erhöht. Wie die Wissenschaftler in einem Artikel im Fachmagazin Molecular Psychiatry berichten, führen Risikovarianten des GLRB-Gens zu überschießenden Schreckreaktionen und möglicherweise zu einer übermäßigen Aktivierung des Furchtnetzwerks im Gehirn. Das GLRB-Gen war Gehirnforschern schon früher bekannt: „Manche Mutationen des Gens verursachen eine Hyperekplexie“, erklärt Reif. „Bei dieser seltenen Erkrankung sind die Muskeln der Betroffenen ständig angespannt, und in Schrecksituationen kommt es bei ihnen zu einer überschießenden Reaktion. Das kann so weit gehen, dass sie unwillkürlich stürzen.“
Im Rahmen der aktuellen Studie untersuchten Reif und seine Kollegen zuerst 1.370 gesunde Personen, die alle zuvor einen Fragebogen zu körperbezogenen Ängsten, ängstlichen Denkmustern und Vermeidungsverhalten beantwortet hatten. Dies geschah mithilfe eines speziellen Biochips, der die Information von rund sieben Millionen kleiner DNA-Sequenzabschnitten aus dem menschlichen Erbgut bestimmt und den Forschern anzeigte, welche Variante dieser Abschnitte bei jedem einzelnen Probanden vorhanden war und welche nicht. Beim Abgleich der Ergebnisse aus den Fragebögen mit der Erbgutanalyse stellte sich heraus, dass höhere Scoring-Werte besonders mit Erbgut-Veränderungen in der Region des GLRB-Gens assoziiert waren. Dieses Gen enthält die Bauanleitung für den Glycinrezeptor B – eines von zwei Proteinen, aus denen sich der Glycinrezeptor zusammensetzt. Dieser durch Glycin gesteuerte Rezeptor sitzt insbesondere in der Zellmembran von Neuronen und wirkt hemmend, das heißt er setzt die Aktivität von nachgeschalteten Neuronen herab.
Zur Überprüfung wiederholte Reifs Team die genomweite Assoziationsanalyse bei weiteren rund 5.500 Probanden, darunter auch 506 Patienten, die an einer Panikstörung litten. „Hätten wir nur Patienten mit einer diagnostizierten Panikstörung untersucht, hätten wir die Risikovarianten nicht gefunden, weil sie aufgrund der relativ kleinen Fallzahl statistisch nicht signifikant gewesen wären“, berichtet Reif. Insgesamt spürten er und die anderen Forscher fünf verschiedene DNA-Varianten in der Region des GLRB-Gens auf, die mit einem geringfügig erhöhten Risiko für Panikstörungen in Zusammenhang stehen. Interessanterweise befanden sich alle dieser Varianten im nichtcodierenden Bereich des GLRB-Gens und verändern somit nicht den Aufbau der Rezeptoruntereinheit. „Das ist wahrscheinlich eine Grundregel bei psychiatrischer Erkrankungen, dass Abweichungen im Erbgut nur die Regulation einzelner Gene aber nicht die Struktur der korrespondierenden Proteine verändern“, sagt Reif. Bei einer der neu gefundenen Risikovarianten konnten er und sein Team nachweisen, dass diese eine veränderte Expression des GLRB-Gens in den Neuronen des Mittelhirns zur Folge hat. Studienteilnehmer, die Träger einer dieser Risikovarianten sind, hatten in einem Verhaltenstest eine überschießende Schreckreaktion. Auch bestimmte Gehirnregionen, die das so genannte Furchtnetzwerk bilden, werden übermäßig aktiviert, wie die Forscher aus funktionellen MRT-Bildern schließen, die sie von Probanden mit und ohne Risikovariante aufgenommen hatten.
Noch ist aber nicht klar, wie der Mechanismus aussieht, der auf zellulärer Ebene dazu führt, dass bei den Betroffenen eine solche Reaktion einfacher ausgelöst wird. „Die Hochregulation des GLRB-Gens könnte nicht nur dafür sorgen, dass mehr von der Rezeptorunterheit produziert wird, sondern dass sich vielleicht auch die Zusammensetzung des Glycinrezeptors verändert, was wiederum die neuronale Kommunikation in eine andere Richtung lenkt“, sagt Reif. In weiteren Experimenten, deren Ergebnisse in einem Artikel in der Fachzeitschrift Translational Psychiatry veröffentlicht wurden, konnten die Forscher um Reif zeigen, dass der vordere Inselcortex von Personen mit einer Risikovariante des GLRB-Gens stärker aktiviert ist und sie auch eine andere Furchtkonditionierung aufweisen als Personen ohne Risikogenvariante.
Mithilfe der Glycin-abhängigen Neurotransmission kann das Gehirn die Antwort auf angstauslösende Situationen modulieren. Der Glycinrezeptor dürfte deshalb einer von mehreren Ansatzpunkten für neue Therapien sein, mit denen man Panikstörungen gezielter als bisher behandeln könnte. Noch befindet sich die Entwicklung von therapeutischen Wirkstoffen ganz am Anfang. Eine der bekanntesten Substanzen, die an den Glycinrezeptor bindet, ist Strychnin, das sich aber aufgrund der schon in geringer Dosierung tödlichen Wirkung kaum als Medikament eignet. Nach Ansicht von Reif müssen die molekularen Mechanismen noch besser verstanden werden, damit sich Panikstörungen wirklich individuell behandeln lassen: „Alle bisher gefundenen Risikogene erhöhen die Wahrscheinlichkeit, an einer Panikstörung zu erkranken, nur um wenige Prozent. Bis wir wissen, an welcher Stelle wir bei jedem Patienten genau angreifen müssen, werden noch einige Jahre vergehen.“