Perinatale Hypoxie sorgt besonders bei Frühchen nicht selten für schwere Gehirnschäden. Betroffene Oligodendrozyten können dabei keine funktionierende Myelinscheide mehr bilden. Doch möglicherweise haben Forscher jetzt einen Weg gefunden, diese Zellen zu retten.
„Frühchen – Reine Nervensache“, unter diesem Titel berichtete DocCheck vor einem Jahr über Defekte im Gehirn von Frühgeborenen. Entsprechend den Ergebnissen zweier Gruppen aus Kanada und den USA sind diese Defekte reversibel und beruhen in vielen Fällen darauf, dass Neuronen und Oligodendrozyten nicht komplett ausgereift sind. Wie man solche Defekte jedoch korrigieren könnte, darüber gibt es bisher kaum verlässliche Untersuchungsergebnisse.
Zumindest im Tiermodell hat jetzt eine Wissenschaftlergruppe aus Washington eine Möglichkeit entdeckt, wie sich bleibende Schäden an der weißen Substanz aufgrund von Sauerstoffmangel weitgehend verhindern lassen. „Nature“ publizierte die Experimente Ende letzten Jahres. Wenn sich die Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen, wäre das Risiko bei Frühgeburten ein gutes Stück kleiner. Eine Hypoxie-Ischämie betrifft eine bis drei von tausend Geburten mit normaler Schwangerschaft und steigt bei Frühgeburten entsprechend der verkürzten Reifezeit in der Gebärmutter auf bis zu vier Prozent an. Davon erleidet wiederum etwa jedes vierte Kind schwere bleibende Schäden, die sich in motorischen und kognitiven Defiziten, in einer Zerebralparese oder epileptischen Anfällen niederschlagen.
Babys, die vor der 32. Woche den Mutterleib verlassen, besitzen weder ausgereifte Lungen noch Erythrozyten, die für den Sauerstofftransport in alle Bereiche des Körpers bereit sind. Zusätzliche Sauerstoffgaben für den Neugeborenen helfen daher auch nicht, mögliche Schäden im zentralen Nervensystem zu verhindern. Ohne schützendes Myelin gibt es aber kein funktionierendes neuronales Netz. Zwar versucht der Organismus, beschädigte myelinproduzierende Oligodendrozyten zu ersetzen. Jedoch, so stellt Vittorio Gallo vom Children’s National Medical Center in Washington DC fest, „geschieht das zu spät“. Dann kommt es zu typischen Schäden in der weißen Substanz (DWMI = diffuse white matter injury), bei denen die Myelinschicht zu dünn oder nicht gleichmäßig vorhanden ist. Das Axon ist in seiner Struktur unnatürlich verändert, sichtbar unter anderem in der Zahl und Morphologie der Ranvier'schen Schnürringe. Die Leitungsfähigkeit ist damit erheblich gestört.
Schon in früheren Untersuchungen hatte die Gruppe um Gallo und andere Kollegen gezeigt, dass ein verbesserter Signalweg über den EGF (epidermal growth factor)-Rezeptor die Proliferation von Vorläuferzellen der Oligodendrozyten fördert. In den aktuellen Versuchen experimentierte das Team nun mit einem doppelten Ansatz, um diesen Effekt nach einer Hypoxie auszunutzen. Genetisch manipulierte Mäuse, die den humanen EGF-Rezeptor in ihren Oligodendrozyten überexprimierten, sorgten nach induziertem Sauerstoffmangel bei neugeborenen Mäusen für Nachschub an diesen Zellen, sodass nach 60 Tagen kaum mehr Unterschiede zu den Zahlen der Kontrolle ohne Hypoxie erkennbar waren. Auch die Myelinproduktion und damit die Leitungsgeschwindigkeit in den Axonen waren nahezu normal, wenn zusätzliche Rezeptoren für einen Proliferationsschub bei Oligodendrozyten sorgten. Eine solche genetisch bedingte Veränderung in der Rezeptordichte ist jedoch schwer auf die Verhältnisse bei Neugeborenen übertragbar. Hier könnten die Erkenntnisse helfen, dass auch zusätzlicher EGF-Wachstumsfaktor an sich diese Effekte auslösen kann. Gibt man ihn den Mäusen intranasal kurz nach der Geburt, so bleiben Schäden an der weißen Substanz aus. Auch Verhaltensstörungen wie mangelndes Gleichgewicht oder Koordination im Laufrad zeigten nur die Tiere nach Hypoxie ohne EGF-Gabe.
EGF ist ein kurzes Polypeptid, das der Zelle notwendige Signale zur Proliferation, Differenzierung und gegen apoptotische Prozesse übermittelt. Über entsprechende Rezeptoren sorgt es für die Stimulation der DNA-Synthese und leitet damit die Mitose ein. Eine wichtige Rolle spielt es bei der Heilung von oralen oder gastrointestinalen Geschwüren, aber auch bei vielen anderen Stoffwechselprozessen in anderen Geweben. In etlichen Krebsarten ist der Wachstumsfaktor und sein Rezeptor mit pathologischem Zellwachstum verbunden. Trastuzumab, ein erfolgreicher Wirkstoff bei Brustkrebs, bindet an den EGF-Rezeptor Her2/neu. Bevor EGF am Menschen zum Einsatz kommt, sind jedoch noch einige ungeklärte Fragen zu beantworten. Warum etwa sind männliche Säuglinge bei Ischämien durch Hypoxie stärker als weibliche betroffen? Die Unterschiede zeigen sich dabei weniger im Gehirn selber als vielmehr in den Auswirkungen auf das menschliche Verhalten. Dieser Befund gilt auch für Laborratten. Eine spanische Gruppe fand eine unterschiedliche Expression von Immunrezeptoren (Cx3CR1 und TRIF) je nach Geschlecht beim Mausmodell einer Hypoxie-Ischämie. Das „Journal of Neurocience“ publizierte im Sommer letzten Jahres die Ergebnisse. Worauf aber die Unterschiede beruhen, ist bisher ungeklärt.
Schließlich scheinen auch noch andere Wirkstoffe den Stoffwechselweg bei der Regeneration von myelinbildenden Zellen nach Hypoxie zu beeinflussen. Eine chinesische Gruppe entdeckte etwa, dass Ethylpyruvat bei Ratten ganz ähnliche Effekte wie EGF hervorruft und zudem noch den Spiegel von Entzündungsfaktoren im Gehirn senkt. G-CSF kann nach Angaben von Forschern aus Taiwan schließlich ebenfalls helfen, die Folgen von Sauerstoffmangel für die Neurogenese zu lindern. Noch immer werfen die verschiedenen Ergebnisse der Forschergruppen mehr Fragen als Antworten auf, was die Möglichkeiten betrifft, Gehirnschäden bei sehr früh geborenen Kindern so gering wie möglich zu halten. Die Entdeckungen von Vittorio Gallo und seinen Kollegen zeigen aber immerhin Möglichkeiten auf, von denen die eine oder andere den Weg in die Klinik schaffen könnte. So wäre etwa die intranasale Gabe von EGF selbst bei sehr kleinen Säuglingen kein Problem. Hoffnungen vieler Kinderärzte richten sich auch auf Stammzellen, die etwa aus Nabelschnurblut kommen und als neuronale Stammzellen bereits erste ermutigende Ergebnisse im Labor erzielten. Die Chancen, dass Frühchen nicht mehr automatisch mit ihren kognitiven Fähigkeiten den später geborenen neuen Erdenbürgern hinterherhinken, steigen auf jeden Fall.