Forscher entdeckten einen Gendefekt, der Mäuse vor Infektionen mit bestimmten Grippeviren schützt. Fehlt den Tieren das Enzym Tmprss2, dann erkranken sie nicht mehr an Grippe. Tmprss2 könnte ein Angriffsziel für neuartige Medikamente sein.
Das Grippevirus ändert immer wieder sein Aussehen und zwingt so Forscher, sich regelmäßig neue Therapiestrategien auszudenken. Seine Wandlungsfähigkeit hat der Erreger unter anderem dem hochvariablen Protein Hämagglutinin zu verdanken. Es steckt in der Virushülle und dient dem Virus dabei als Anker, um sich an die Wirtszellen zu heften und in diese einzudringen. Diese kapert es für die Herstellung neuer Viruspartikel. Das stabförmige Hämagglutinin muss durch eine molekulare Schere gespalten werden, um seine endgültige Form und damit auch seine Funktionalität zu erhalten. Diese Aufgabe übernimmt ein Enzym des infizierten Wirtsorganismus. Im Reagenzglas konnten Forscher bereits einige dieser auch Proteasen genannten Enzyme identifizieren, die Hämagglutinin schneiden. Dass diese Enzyme auch wichtig für den Infektionsverlauf im Organismus sind, haben nun Wissenschaftler des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) gezeigt. Wie das Team um Professor Klaus Schughart und Bastian Hatesuer in der Fachzeitschrift PLOS Pathogens berichtet, bleiben Mäuse von Grippe verschont, wenn sie die Protease Tmprss2 nicht besitzen. Der Schutz funktioniert allerdings nur bei Viren mit dem Hämagglutinin-Typ H1. Dieser kommt relativ häufig vor, zum Beispiel bei den Erregern der Schweine-Grippe aus dem Jahr 2009 oder der Spanischen Grippe aus dem Jahr 1918.
Schughart und sein Team testeten den Krankheitsverlauf an speziell gezüchteten Mäusen. Die Tiere enthielten in ihrem Erbgut einen fehlerhaften Bauplan für Tmprss2 und konnten deshalb die Protease nicht mehr produzieren. Die Forscher infizierten die Tiere mit den Erregern, indem sie diese zunächst betäubten und anschließend in deren Nase eine Viruslösung tropften. Im Vergleich zu normalen Artgenossen, die bei gleicher Behandlung an Grippe erkranken und deutlich an Gewicht verlieren, traten bei den mutierten Mäusen keine wesentlichen Krankheitssymptome auf: „Diese Mäuse erlitten keinen Gewichtsverlust und ihre Lungen wurden kaum geschädigt“, sagt Schughart, Leiter der Abteilung Infektionsgenetik am HZI. „Zwar dringen die Viren in die Lungenzellen ein, aber es werden keine aktivierten Viruspartikel gebildet, die die umliegenden Zellen anschließend infizieren können.“ In einem weiteren Experiment konnten die Forscher zeigen, dass die mutierten Mäuse aufgrund des fehlenden Tmprss2 nicht in der Lage waren, Hämagglutinin zu schneiden. In den Bronchien der Tiere fanden Schughart und seine Mitarbeiter nur die nicht-funktionale Form des Ankerproteins – wahrscheinlich der Grund, warum die Infektion rasch zum Erliegen kam. Interessanterweise sind die Mäuse aber nur wenig resistent gegen Grippeviren mit dem ebenfalls häufig beim Menschen zirkulierenden Hämagglutinin-Typ H3. Schughart geht in diesem Fall davon aus, dass noch eine weitere Protease existiert, die diesen Hämagglutinin-Typ spalten kann.
Tmprss2 kommt nicht nur in der Lunge vor, sondern auch in der Prostata, den Nieren und in weiteren Geweben, doch welche Aufgabe Tmprss2 normalerweise bei der Maus hat, ist noch völlig unklar: „Wir haben bei den mutierten Mäusen keinen wesentlichen Veränderungen beobachten können. Sie zeigen keine Beeinträchtigungen im Verhalten oder andere Krankheitssymptome, vermutlich weil das fehlende Tmprss2 durch andere Proteasen kompensiert wird“, sagt Schughart. Auch in humanen Gewebe wird Tmprss2 hergestellt und gilt als wichtiger Kandidat für die Spaltung von Hämagglutinin: „Mittlerweile kennt man schon Menschen, deren für Tmprss2 korrespondierendes Gen eine Mutation trägt, aber ob sie gegen Grippe mit dem Hämagglutinin-Typ H1 geschützt sind, ist noch nicht bekannt“, sagt Schughart. Da die Protease Tmprss2 für die Virusvermehrung notwendig ist, macht sie dies zu einem möglichen Angriffspunkt für neue Medikamente. Bisherige Mittel, beispielsweise Tamiflu oder Relenza, greifen Bestandteile des Virus an und haben deswegen einen entscheidenden Nachteil: Wenn sich das Virus verändert, kann es gegen solche Substanzen resistent werden und die Therapie schlägt nicht mehr an. Bei einer medikamentösen Attacke auf Tmprss2, die ein Bestandteil des infizierten Patienten ist, droht diese Gefahr dagegen nicht.
Andere Experten finden die neuen Ergebnisse der Braunschweiger Forscher sehr spannend: „Die Studie von Schughart und seinem Team zeigt zum ersten Mal, dass die Aktivierung von Hämagglutinin bei Säugetieren eine wichtige Rolle für die Pathogenität des Grippevirus spielt“, sagt Eva Böttcher-Friebertshäuser, Leiterin einer Arbeitgruppe am Institut für Virologie der Universität Marburg. Ihr Team entwickelt Substanzen, die Proteasen wie Tmprss2 blockieren. Den Marburger Wissenschaftlern gelang bereits im Reagenzglas der Nachweis, dass diese Inhibitoren die Funktion von Tmprss2 hemmen. Ob sie Mäuse vor Grippe schützen, möchte Böttcher-Friebertshäuser bald in einer Studie testen. Sind diese Versuche und nachfolgende klinische Studien beim Menschen erfolgreich, kann sich die Forscherin vorstellen, dass Proteasehemmer eines Tages die bisherigen Grippearzneien gut ergänzen: „Mit einer Kombinationstherapie aus Protease-Inhibitor und Tamiflu oder Relenza lässt sich vermutlich das Grippevirus noch besser blockieren und man könnte geringere Mengen der einzelnen Wirkstoffe nehmen“, hofft Böttcher-Friebertshäuser.