Physiologen arbeiten zurzeit daran, eine klassische Lerntheorie zu widerlegen: Gemäß ihrer neuen Theorie nehmen Nervenzellen einen wiederholt auftretenden Reiz – zum Beispiel den Duft einer Rose – nur dann intensiver wahr, wenn er sie „überrascht“.
Wenn wir lernen, wie eine Rose riecht, dann stärken sich im Hirn die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, welche die Rose optisch wahrnehmen und jenen, die ihren Duft wahrnehmen. Gemäß Lehrbuchmeinung müsste sich die Intensität des Duftes eigentlich verstärken, wenn man die Rose wiederholt anblickt: Wenn wir zweimal daran riechen, dann müsste die Verbindung doppelt so stark werden, und der Duft, den wir mit der Rose verbinden, müsste uns doppelt so intensiv erscheinen – was in der Realität offensichtlich nicht der Fall ist. Hintergrund dieser Fehleinschätzung ist die klassische Theorie des Assoziationslernens: Zwei gleichzeitig und wiederholt auftretende Reize werden demnach so miteinander verknüpft, dass der erste Reiz alleine den zweiten auslösen kann. Das berühmteste Beispiel dafür ist der Pawlowsche Hund: Wenn ein Glockenton wiederholt mit einer Wurst kombiniert wird, beginnt der Hund bereits auf den Glockenton zu sabbern, ohne dass ihm die Wurst vor die Nase gehalten werden muss. Der Psychologe Donald Hebb formulierte diese Theorie 1949 so: Ist Neuron A wiederholt unmittelbar vor Neuron B aktiv, dann verstärkt sich die Verbindung von A nach B bis schließlich Neuron A alleine Neuron B aktivieren kann. In den letzten 40 Jahren gab es zwar unzählige experimentelle Hinweise für dieses Hebb’sche Lernen, aber es treten auch Ungereimtheiten auf: Die Verbindung von Neuron A in Richtung Neuron B würde nach der Hebb’schen Theorie nämlich allein schon dadurch gestärkt, dass ein Reiz wiederholt auftritt. Das würde aber unweigerlich zu Fehlinterpretationen wie jener mit dem Rosenduft führen.
Robert Urbanczik und Walter Senn vom Institut für Physiologie und vom Center for Cognition, Learning and Memory (CCLM) der Universität Bern haben nun in der Zeitschrift Neuron eine neue Theorie für das Lernen mittels Nervenzellen vorgestellt. Diese erklärt, wie Nervenzellen den Fehlschluss verhindern. „Das klassische Assoziationslernen ist im Grunde ein Lernen von Voraussagen“, erläutert Walter Senn. „Eine Nervenzelle lernt somit nur dann, wenn eine Voraussage nicht eintrifft; also wenn sie überrascht wird.“
Im Beispiel mit der Rose vermittelt der erste Reiz den Eindruck der Blume und der zweite die Intensität des dazugehörigen Rosenduftes. „Falls die Intensität des Rosenduftes vom Anblick der Rose korrekt vorausgesagt wird, verändert sich die Verbindungsstärke nicht, auch nicht nach wiederholtem Anblicken und Riechen der Rose“, erläutert Neurosphysiologe Senn, der erforscht, wie Lernen und Gedächtnis zustande kommen. Falls aber die Rose unerwartet stark duftet und der Reiz somit stärker ausfällt, als er visuell vorausgesagt wurde, werden die Verbindungen zwischen den Neuronen gestärkt. Beim nächsten Anblick der Rose wird dann genau dieser stärkere Duft vorausgesagt. Weitere Experimente, welche diese Theorie anhand von Messungen an Nervenzellen bestätigen sollen, werden nun am Institut für Physiologie der Universität Bern durchgeführt. Originalpublikation: Learning by the dendritic prediction of somatic spiking Robert Urbanczik et al.; Neuron, doi: 10.1016/j.neuron.2013.11.030; 2014