Das Studium sei die schönste Zeit des Lebens, heißt es oft. Vielleicht bekommen manche deshalb nicht genug davon und bleiben ihr halbes Leben eingeschrieben. Wir werfen ein Licht auf verschiedene Typen von Langzeitstudenten und lassen Medizinstudenten zu Wort kommen.
Man nennt sie „Bummelstudenten“ – und stellt sie sich so vor: Junge oder auch nicht mehr ganz so junge Studenten, die sich von den Verlockungen der Freizeit hinreißen lassen. Lange ausschlafen, um zwölf am Mittag den ersten Kaffee trinken, jeden Abend auf einer anderen Party abtanzen und sich nur ab und zu in den Hörsaal der Hochschule verirren. Doch stimmen diese Klischees wirklich? Was muss passieren, damit man zum Langzeitstudenten wird und womöglich sein halbes Leben an der Uni verbringt? Die Regelstudienzeit für Medizin beträgt 12 Semester, zuzüglich drei Monaten für das Staatsexamen. Es ist nicht verwunderlich, wenn der eine oder andere zwei bis drei Semester länger braucht. Man muss nur beim erstem Versuch durch das Physikum gefallen sein oder ein Freisemester für die Doktorarbeit oder ein Auslandsjahr genommen haben. Doch selten trifft man die Urgesteine unter den Studenten, die nicht in der Regelstudienzeit bleiben. Leute, die über 20 oder 30, ja sogar über 100 Semester für ihren Studienabschluss benötigen – wenn sie ihn denn überhaupt erreichen. Viele fragen sich, was diese Leute dazu motiviert, ihr Leben an der Uni zu fristen und zu studieren. Dahinter verstecken sich ernste, aber auch weniger verständliche Absichten.
Seine Studien-Dauer kann vermutlich in Deutschland niemand toppen. Ein Medizinstudent ist bereits seit 56 Jahren an der Kieler Christian-Albrechts-Universität eingeschrieben. Der König der Langzeitstudenten befindet sich mittlerweile im 112. Semester. Als er vor 56 Jahren sein Studium begann, schickte die Sowjetunion ihren Sputnik-Satelliten in die Erdumlaufbahn und läutete das Zeitalter der Raumfahrt ein. Über die persönlichen Gründe des ausgedehnten Studiums ist ebenso wenig bekannt, wie über die Frage, ob er überhaupt noch Vorlesungen besucht – oder ob er zu der Gruppe der Scheinstudenten gehört, die nur für Studenten-Ermäßigungen und günstigen Bus- und Bahntickets eingeschrieben sind. Wenn man bedenkt, dass die meisten Studenten sich gewöhnlich mit 18 oder 19 Jahren erstmals ins Studium einschreiben - wie auch der Kieler Uni-Sprecher Boris Pawlowski, der den Fall vor einem Jahr publik machte, bestätigt - dürfte der Langzeitstudent somit sicherlich schon weit über 70 Jahre alt sein. Wo andere Senioren ihre Rentenzeit genießen, ist dieser Kieler Herr schon lange dabei, in der medizinischen Fakultät sein Unwesen zu treiben. Oder etwa nicht?
Der Fall veranschaulicht, laut Pawlowski, eine Lücke im System. Im Gegensatz zu den Magister- oder Diplomstudiengängen gebe es bei den Staatsexamen-Studiengängen keine Regelungen, die einen Ausschluss nach einer bestimmten Zeit vorsähen. Die Universitäten könnten eine solche Regelung auch gar nicht einführen, betont der Sprecher. Denn für die Prüfungsordnungen der Staatsexamen seien die Bundesländer verantwortlich. Da, wo sie es können, erhöhten die Universitäten Pawlowski zufolge den Druck auf die Langzeitstudenten. Für die alten Studiengänge mit Diplom- oder Magisterabschluss, die auf die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge umgestellt wurden, gab es spezielle Regelungen, um die Langzeitstudenten loszuwerden. Die Studenten mussten innerhalb einer begrenzten Zeit mit ihren Abschlüssen fertig werden. Es gab engere Kontrollen der Studienzeiten und zügigere Zwangsexmatrikulationen. In Sachsen wurden beispielsweise 2012 Langzeitstudiengebühren eingeführt. Wer seine Regelstudienzeit um mehr als vier Semester überzieht, muss dort seit zwei Jahren 500 Euro pro Semester zahlen, abgesehen von Härtefällen. Doch während es bei den Magister- und Diplomstudiengängen universitätsinterne Regelungen zum Abschluss gibt, fehlen solche bei den Staatsexamenstudiengängen in Medizin, Tiermedizin und Pharmazie. Der Kieler Rekord-Langzeitstudent kann somit nicht von der Uni verwiesen werden. "Die Entscheidung über ein Staatsexamen in Medizin fällt grundsätzlich das Land, nicht die Universität", bestätigt der Sprecher der Uni Kiel. „Das Hochschulgesetz Schleswig-Holsteins enthält keine Klausel, die es uns möglich machen würde, Langzeitstudenten zu exmatrikulieren“. Was sich im ersten Moment sogar witzig anhört, ist nach genauerem Nachdenken sehr problematisch, erklärt Pawlowski. Er ist der Meinung: „Die Langzeitstudenten nehmen jungen Menschen, die gerade von der Schule abgegangen sind, den Studienplatz weg“.
Gerade in der Medizin ist der Kampf um einen der begehrten Studienplätze groß und mit erheblichen Hürden verbunden. Wer keine sehr guten Noten vorweisen kann, muss lange Wartezeitsemester auf sich nehmen, um seinem Traumberuf Arzt näher zu kommen. Einige Universitäten hoffen deswegen, durch Druck auf die Langzeitstudenten wieder mehr Plätze freischaufeln zu können, die auch wirklich genutzt werden. Auch an der Uni Lübeck gibt es, nach Auskunft von Sprecher Rüdiger Labahn, Studenten mit enorm hohen Semesterzahlen. Ein Medizinstudent habe sich vor knapp zwei Jahren im Rentenalter auf Drängen der Universität exmatrikuliert - nach 70 Fachsemestern. Zwei weitere Lübecker Studenten klagten derzeit sogar gegen ihre Rauswürfe nach mehr als 40 Semestern. Prüfungen oder andere Studienleistungen seien in diesen Fällen seit Jahren oder gar Jahrzehnten nicht mehr erbracht worden. Dennoch überwiesen sie weiter ihre Semesterbeiträge. „Wir fragen uns schon, was sich diese Leute eigentlich vom Studentenstatus erhoffen“, sagte Labahn. Ermäßigungen, etwa bei den Beiträgen zur Krankenversicherung, könnten es nicht sein - sie seien fast immer an Altersgrenzen gekoppelt. Und nur um ein günstigeres Bus- oder Bahnticket zu bekommen, lohne es sich auch nicht, die Semesterbeiträge jedes Jahr zu überweisen. Vor allem, da einige der Langzeitstudenten wohl schon Rentnerermäßigungen bekommen könnten. Nach Angaben des Sprechers ist davon auszugehen, dass es bei den Staatsexamensstudiengängen wie Medizin bundesweit Fälle mit enorm hohen Semesterzahlen gibt. Ihre Häufigkeit liege jedoch, gemessen an der Gesamtzahl der Studenten, im Promillebereich.
Doch was treibt einen Studenten dazu an, so lange immatrikuliert zu sein und jedes Semester brav Studiengebühren oder Semesterbeiträge zu überweisen? Wenn es schon keine finanziellen Erleichterungen bringt, so ist bei manch einem Scheinstudenten vielleicht der Status ausschlaggebend. Denn mal ehrlich, wer würde sich nicht gerne Medizinstudent nennen? Ärzte stehen auf der Beliebtheitsskala verschiedenster Berufsbilder ganz oben. Man kann darüber zwar nur spekulieren, aber einigen mag der Status eines Medizinstudenten wohl sehr gelegen kommen. Und vielleicht setzt sich ja der eine oder andere Langzeitstudent sogar wirklich in ein paar Vorlesungen, weil er Interesse an medizinischen Themen hat. So gibt es beispielsweise in einigen Studiengängen auch Senioren-Studenten, die ihre freie Zeit noch mal dazu nutzen, sich weiterzubilden und das ein oder andere Fach zu studieren, das ihnen früher verwehrt blieb. So oder so sollte man sich sein Urteil über Langzeitstudenten aber nicht zu voreilig bilden. Denn im Gegensatz zu den Scheinstudenten, die die Universitäten unbedingt loswerden wollen, um wieder Plätze für das begehrte Medizinstudium freizuschaufeln, gibt es auch Langzeitstudenten, die ungewollt dazu geworden sind. „Härtefälle“ nennt man sie, die Studenten, die aufgrund verschiedenster Schicksalsschläge für ihr Studium länger brauchen als die Norm.
Einer davon ist Klaus Thaller*, Medizin-Langzeitstudent an der LMU München. Er studiert im 54. Fachsemester Medizin. Herr Thaller schrieb sich 1986, kurz nach seinem erfolgreich abgelegten Abitur, in Medizin ein. „Mein Traum war es schon immer, Arzt zu werden“, erinnert sich der 49-Jährige. Die ersten vier Semester beendete er zügig, doch kurz vor dem Physikum ereilte ihn der erste Schicksalsschlag. „Mitten in der Prüfungsvorbereitungsphase erfuhr ich, dass mein bester Freund an einem Autounfall verstarb. Ich bin daraufhin in ein tiefes Loch gefallen, mein Kummer war so groß, dass ich nicht mehr ans Studieren dachte.“ Klaus trauerte ein Jahr um seinen Freund, bis ihn seine Mutter wieder dazu ermutigte weiterzustudieren. „Der Anfang war wirklich schwer. Ich konnte mich kaum auf das Lernen konzentrieren und fiel durch das erste Staatsexamen.“ Beim zweiten Anlauf schaffte er es dann doch. Doch nicht allzu viel später kam die nächste Hiobsbotschaft. „Meine Mutter ist psychisch erkrankt und wurde in eine Klinik eingeliefert. Mich hat das sehr stark belastet. Ich war eine Zeit lang regelrecht unfähig und blockiert zu studieren.“ Statt in die Univeranstaltungen und Vorlesungen zu gehen, kümmerte sich Herr Thaller einige Jahre um seine kranke Mutter. Für ihn war nicht mehr an Studieren zu denken. Fünf Jahr nach dem Tod seiner Mutter, fasste er jedoch neuen Mut, das Studium wiederaufzunehmen. Da Klaus immer darauf geachtet hatte, seinen Studentenstatus nicht zu verlieren, konnte er nach Wiederholung einiger Kurse, die inzwischen neu eingeführt waren, in die klinischen Semester einsteigen. „ Zu Beginn war es sehr schwer, wieder in diesen regelmäßigen Lernrhythmus zu kommen und kontinuierlich zu lernen. Ich war ja auch nicht mehr so jung wie damals und konnte mir die Sachen schlecht merken. Doch irgendwann gewöhnte ich mich wieder ans Lernen und machte weiter.“ Inzwischen steht Klaus kurz vor dem zweiten Staatsexamen und ist auf dem besten Weg, endlich das Medizinstudium zu beenden. Er ist froh, wenn er es geschafft hat. „Es ist schon ein komisches Gefühl, unter so vielen jungen Leuten zu studieren“, gesteht Klaus. „Man fühlt sich irgendwie nicht dazugehörig.“ Ein Positives hat es aber doch, wie er grinsend zugibt: „Die Patienten scheinen vor älteren Leuten mehr Respekt zu haben. Ich werde immer für einen Oberarzt gehalten, obwohl ich ja eigentlich noch Student bin“.
Wie sehen eigentlich die Medizinstudenten ihre Langzeitkommilitonen. Wir haben zwei Studenten befragt. Jeanne Obermann studiert im neunten Semester Medizin in München. Sie kennt einen solchen Langzeitstudenten: „Bei uns gibt es einen im Studium, der schon Jahre vor mir angefangen hat, aber dennoch immer noch vor dem Physikum steht. Als ich im vierten Semester war, besuchte er mit mir gemeinsam den Biochemie-Kurs, war jedoch selten anwesend. Auf Rückfrage erzählte er mir, dass er nebenbei Vollzeit arbeiten müsse und deswegen seit Jahren immer noch nicht alle Kurse und Prüfungen der Vorklinik geschafft hat.“ Jeanne kann solche Studenten zwar verstehen, allerdings zweifelt sie am Sinn eines solchen Studiums: „Klar, dass viele Leute arbeiten müssen, um sich das Studium finanzieren zu können. Und es ist auch klar, dass man dann vielleicht etwas länger dafür braucht. Aber jahrelang im selben Semester zu sein, ohne wirklich etwas auf die Reihe zu bringen und diesen Platz jedes Jahr wieder zu besetzen, den andere Leute viel besser ausnützen könnten, finde ich etwas ungerecht. Vor allem, da dieser Langzeitstudent auf keiner Medizinerparty gefehlt hat, haben sich damals viele über ihn aufgeregt.“ Sie fände deswegen eine Maximalstudienzeit für Studenten angebracht. „Es wäre viel besser, wenn es eine genaue Semesterzahl gäbe, nach der man exmatrikuliert würde, wenn man bis dahin immer noch nicht zum Physikum angetreten ist oder bestimmte Prüfungen bestanden hat. Ausgenommen von Härtefällen natürlich, könnte so ein großer Teil der Studenten motiviert werden, die Studienzeit schneller abzuschließen und die Verlockungen eines Langzeitstudiums wären nicht mehr so groß.“ Gerard Paul, der im fünften Semester in Tübingen studiert, sieht das jedoch etwas anders: „Ich finde, dass es egal sein sollte, wie lange man für das Studium braucht. Medizin ist nun mal ein sehr schwieriges Studium, in das viel Lernzeit investiert werden muss und die sollte man demjenigen Studenten geben. Jeder benötigt unterschiedlich viel Zeit, um sich den Stoff zu merken, manche müssen neben dem Studium zusätzlich arbeiten, andere bekommen ein Kind, müssen Verwandte pflegen oder werden selbst schwerkrank.“ Gerard denkt dabei an eine befreundete Kommilitonin:“ Ich bewundere eine Mitstudentin, die unter Multipler Sklerose leidet und garantiert nicht in der Regelstudienzeit bleiben kann, da es ihr oft zu schlecht geht, um Prüfungen oder Kurse zu besuchen. Dennoch gibt sie nicht auf und versucht ihren Traum vom Arztsein zu verwirklichen. Man kann so jemanden doch nicht nach zehn Jahren exmatrikulieren, nur weil derjenige immer noch nicht fertig ist.“ Für den Tübinger heißt das: „Nur weil jemand sein Studium in Regelstudienzeit durchzieht, bedeutet das nicht, dass er der bessere Arzt wird. Durch schnelles Bulimie-Lernen kann man die Prüfungen zwar auch alle bestehen, aber jemand, der sich länger Zeit für das Verständnis der grundlegenden medizinischen Theorien gibt, eine bessere Work-Life-Balance hat oder auch einfach nur ein geselliger Mensch ist, der sich neben dem Studium noch sozial engagiert, wird später ein genauso guter Mediziner sein, wie derjenige, der in Turbozeit sein Studium erledigt hat. Ich finde, das sollte man berücksichtigen und jedem die Chance geben, das Optimum aus seiner Studienzeit herauszuholen – egal wie lange diese dauert.“
Wie sieht es eigentlich mit späteren Berufsaussichten für die Bummelstudenten aus? Viele der Mediziner, die lange über die Regelzeit studieren, machen sich Sorgen, wie der Arbeitgeber eine solche Verzögerung aufnimmt. Gerade bei Bewerbungsgesprächen kann die unangenehme Frage nach der langen Studienzeit nachteilig bewertet werden, wenn man sich kein schlagkräftiges Argument dafür überlegt. Langzeitstudenten sind grundsätzlich nicht schlechter gestellt als ihre Arztkollegen. Sie müssen sich nur anders präsentieren. Die längere Studienzeit muss überzeugend begründet werden. Es kommt bei einer Bewerbung darauf an, die eigenen Leistungen positiv darzustellen. Die „Vermarktung“ der eigenen Person entscheidet neben der Note oft maßgeblich über die Berufsaussichten. Wie sollte man sich also genau im Bewerbungsgespräch präsentieren? Gerade Langzeitstudenten sollten stolz auf die eigenen Leistungen sein. Die eigenen „Ecken und Kanten“ geben ihnen Profil und Persönlichkeit. Sie sollten ehrlich zu den eigenen Fehlern und Krisen zu stehen. Dies erfordert Mut, der von vielen Personalchefs durchaus positiv gewertet wird. Qualifizierte Bewerber mit Persönlichkeit und Charakterstärke sind gefragt. Schwierigkeiten und persönliche Krisen sollten deshalb im richtigen Licht dargestellt werden. Statt zum Beispiel ausführlich von den eigenen Stresskrankheiten zu erzählen, könnte beispielsweise die Überwindung einer persönlichen Krise in den Mittelpunkt des Gesprächs gerückt werden. Das zeigt auch, dass man als Arzt gut mit Konfliktsituationen im medizinischen Alltag klarkommt, dass man Lebenserfahrung gesammelt hat, an denen es anderen Berufsanfängern oft mangelt und dass man Willensstärke besitzt, Dinge durchzuführen, die man unbedingt erledigt haben möchte. Langzeitstudenten, die während des Studiums zur Erwerbstätigkeit gezwungen waren, beweisen die Fähigkeit zur Organisation und Zeitmanagement, zeigen Belastbarkeit und ein Verständnis des Arbeitsmarktes - alles Dinge, die einem im späteren Arztleben von großem Vorteil sind. Es kommt letztlich nicht auf Ausreden an, diese wirken unehrlich und schaffen kein Vertrauen. Man sollte lieber selbstbewusst zu seinem eigenen Lebenslauf stehen, dann hat man weitaus mehr Chancen, seinen Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Zudem werden gerade in vielen Bereichen Ärzte händeringend gesucht. Da dürfte ein Langzeitstudium häufig erst mal Nebensache bei der Bewerbung sein. * Name des Interviewten durch die Redaktion geändert