Jährlich 19.000 Todesfälle durch ärztliche Fehler – davon sprechen Wissenschaftler im AOK-Krankenhausreport 2014. Alles nur Taktik oder ein Warnsignal an die neue Regierung? Koalitionsvertreter müssen jetzt entscheiden, wie es mit den Kliniken weitergehen wird.
In regelmäßigen Abständen sorgt der AOK-Krankenhausreport für Gesprächsstoff. Am Beispiel planbarer Hüftgelenk-Operationen zeigen Versorgungsforscher jetzt auf, dass sich Routine durchaus lohnen kann. Beispielsweise haben jene 20 Prozent aller Kliniken mit wenig Erfahrung eine um 37 Prozent höhere Rate an Revisionseingriffen, gemessen an den 20 Prozent mit vielen OPs. Und bei Frühchen, die unter 1.250 Gramm Geburtsgewicht auf die Waage bringen, liegt die Mortalität bei Kliniken mit weniger als 15 Fällen pro Jahr um 87 Prozent höher. Als Vergleich dienten Häuser, die mehr als 45 kleine Patienten behandeln.
„Vieles spricht dafür, dass mit steigender Erfahrung und Routine bessere Ergebnisse erzielt werden“, kommentiert Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), die Daten. Und Uwe Deh, Geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbandes, wirft manchen Häusern vor, sie wollten sich zu „kleinen Universitätskliniken“ entwickeln. „Für eine hochwertige medizinische Versorgung ist jedoch Spezialisierung das Gebot der Stunde.“ Die Erkenntnis überrascht wenig – Fachgesellschaften sind längst dabei, in verschiedenen Bereichen je nach Routine Kompetenz-, Referenz- und Exzellenzzentren zu definieren. Doch dann platzte auf der Pressekonferenz die Bombe.
Die Autoren fanden heraus, dass es bei fünf bis zehn Prozent aller 18,8 Millionen Behandlungen im Krankenhaus zu – wie sie schreiben – „unerwünschtes Ereignissen“ kommt. Knapp jeder zweite Fall könnte durch geeignete Maßnahmen vermieden werden. Beispielsweise tragen Hygieneprogramme dazu bei, nosokomiale Infektionen zu vermeiden. Elektronische Verschreibungssysteme wiederum erhöhen die Arzneimittelsicherheit. Und Register, wie sie in der Endoprothetik sukzessive eingeführt werden, machen Medizinprodukte sicherer. Bleibt noch der Faktor Mensch: Laut Report machten Ärzte bei jedem 100. Patienten im Krankenhaus medizinische Fehler, und jeder 1000. verstarb daran. Summa summarum ist von knapp 19.000 Todesfällen im Jahr die Rede.
Gegen diese Zahlen regt sich jetzt massiver Widerstand. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK) spricht von einem „durchsichtigen taktischen Manöver“. Noch deutlichere Worte findet die Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). „Ich fordere den AOK-Bundesverband auf, sich für die Behauptung im aktuellen Krankenhausreport, in deutschen Krankenhäusern würden 18.800 Menschen durch vermeidbare Behandlungsfehler zu Schaden kommen, zu entschuldigen“, sagt DKG-Präsident Alfred Dänzer. Nach ausführlicher Prüfung aller Daten spricht er von einer „wissentlichen Falschangabe“. Auswertungen seiner Fachgesellschaft hätten gezeigt, dass bei Schlichtungsstellen der Ärztekammern genau 82 Todesfälle auf Krankenhausbehandlungen entfielen. Hinzu kämen hochgerechnet 1.200 Schadensansprüche von Haftpflichtversicherungen, die mit Todesfällen in Verbindung gebracht wurden. DKG-Statistiker nahmen auch die im AOK-Report erwähnten 188.000 Behandlungsfehler kritisch unter die Lupe. Sie fanden über den medizinischen Dienst der Krankenkassen nur 8.600 vermeintliche Fälle für den Krankenhausbereich. Und weiter: Die Annahme, jeder zehnte der im Report behaupteten 188.000 Behandlungsfehler sei so gravierend, dass Patienten zu Tode kämen, sei „absolut unseriös“. Schätzungen aus den Jahren 1996 bis 2006 seien vielmehr „fortgeschätzt“ worden.
Hinter dem Zahlenstreit stecken vor allem zwei Forderungen: bessere Qualität und bessere Honorierung. Während entsprechende Ausgaben gesetzlicher Krankenkassen von 2002 bis 2012 auf knapp 62 Milliarden Euro explodiert sind (plus 35 Prozent), haben Länder nur noch 2,62 Milliarden Euro (minus 19 Prozent) investiert. In diesem Punkt sind sich alle Beteiligten einig – auch Kollegen der Bundesärztekammer (BÄK) fordern eine Krankenhausplanung nach Qualitätsmaßnahmen inklusive höheren Investitionen. Darüber hinaus wollen sie das DRG-Fallpauschalensystem (Diagose Related Groups) überarbeiten. Krankenhäuser bräuchten größere Ermessensspielräume, um strukturschwache Regionen zu versorgen, aber auch zur Vergütung von Extremfällen. Jetzt hat die BÄK zwei Positionspapiere vorgestellt, nämlich zur Krankenhausfinanzierung und zur qualitätsorientierten Krankenhausplanung. Jens Spahn, Gesundheitsexperte der Union, will das Thema professionalisieren. Er schlägt ein spezielles Institut vor, das Daten von Ärzten und Kliniken sammelt – respektive bewertet. Karl Lauterbach (SPD) hat jetzt angekündigt, besagtes Qualitätsinstitut im Gesundheitswesen rasch zu etablieren. Es herrsche Einigkeit mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), sagt der Sozialdemokrat. Allerdings lösen Forschungsdaten wohl kaum personelle Engpässe in Behandlung und Pflege.