Wie Lipidsenker optimal dosiert werden sollen, darüber streiten nun amerikanische und europäische Kardiologen. Bei näherer Betrachtung sind die Unterschiede geringer als angenommen. Allerdings bleiben noch methodische Schwächen zu klären.
Selten löst eine neue Leitlinie derart heftige Debatten unter Ärzten und Apothekern aus wie das Papier zur Lipidsenkung. Nach rund vierjähriger Vorbereitung haben die American Heart Association (AHA) und das American College of Cardiology (ACC) ihre überarbeiten Empfehlungen veröffentlicht. US-Kardiologen rücken erstmals vom Konzept, je nach Risiko einen bestimmten Zielwert zu erreichen („Treat to Target“), ab. Vielmehr fordern sie fixe Arzneistoffgaben („Fire and Forget“), je nach Risikogruppe. Im gleichen Atemzug distanzieren sie sich von europäischen Fachgesellschaften.
Bei der Diskussion dürfen zwei Aspekte nicht vergessen werden: Alle Fachgesellschaften verfolgen letztendlich das gleiche Ziel, nämlich atherosklerotisch bedingte Erkrankungsrisiken zu minimieren. Und alle Beteiligten greifen für ihre Arbeit auf die gleichen Studien zu. Allerdings haben US-Kardiologen ihre methodische Herangehensweise geändert. In klinischen Studien seien Patienten mit unterschiedlichen Dosierungen diverser Lipidsenker, aber nicht mit unterschiedlichen Zielwerten verglichen worden. Da es für „Treat-to-Target“-Therapien keine ausreichende Evidenz gibt, präferieren amerikanische Experten die „Fire-and-Forget“-Strategie.
Damit rücken Ezetimib oder Fibrate ganz in den Hintergrund – und Statine nehmen eine noch zentralere Rolle ein als bisher. Autoren der Leitlinie haben vier „benefit groups“ definiert, die von entsprechenden Arzneistoffen besonders profitieren. Dazu gehören Patienten mit LDL-Cholesterinwerten über 190 mg/dl, etwa bei familiärer Hypercholesterinämie. Hinzu kommen Typ-1- und Typ-2-Diabetiker zwischen 40 und 75 Jahren mit LDL-Cholesterinwerten von 70 mg/dl oder mehr. Auch bei atherosklerotisch bedingten kardiovaskulären Erkrankungen sollte zu Statinen gegriffen werden. Bleiben noch Patienten ohne Vorerkrankung, deren kardiovaskuläres Risiko höher als 7,5 Prozent ist. Hier und da tauchen gewisse Zielgrößen doch wieder auf. Beispielsweise kalkulieren die Autoren, hoch dosierte Statine wie 20 bis 40 mg Rosuvastatin oder 40 bis 80 mg Atorvastatin sollten LDL-Cholesterin mindestens um die Hälfte senken. Patienten mit mäßig erhöhtem Risiko beziehungsweise Unverträglichkeit gegen hochdosierte Statine erhalten mittlere Arzneistoffmengen (10 bis 20 mg Atorvastatin; 5 bis 10 mg Rosuvastatin; 20 bis 40 mg Simvastatin; 40 bis 80 mg Pravastatin; 40 mg Lovastatin; 80 mg extended-release Fluvastatin; zweimal täglich 40 mg Fluvastatin). Im Idealfall sinkt der LDL-Cholesterin-Wert um 30 bis 50 Prozent.
Mit ihrer neuen Leitlinie haben die Fachgesellschaften gleich ein Tool mitgeliefert, um kardiovaskuläre Risiken durch LDL-Cholester zu berechnen. Sie argumentieren, der bislang verwendete Framingham Risk Score (FRS) basiere auf relativ alten Daten und berücksichtige ethnische Bevölkerungsgruppen nicht ausreichend. Dr. Nancy Cook und Dr. Paul M. Ridker von der Harvard Medical School kritisieren öffentlichkeitswirksam über die New York Times, der neue Rechner würde Risiken um 75 bis 150 Prozent überschätzen. Ridker selbst hatte bereits 2012 auf entsprechende Fehler hingewiesen, aber kein Gehör gefunden. Zeitgleich moniert Jeanne Lenzer vom „British Medical Journal“, die Mehrheit aller Panelteilnehmer hätte aktuelle oder frühere Verflechtungen zur Pharmaindustrie. Ihr Kollege Edward Davies will entsprechende Beiträge nicht als persönlichen Angriff auf Panelmitglieder verstanden wissen. Er fordert mehr Transparenz und fragt sich zeitgleich: „Können wir in den gesamten Vereinigten Staaten keine 15 Experten ohne finanzielle Verbindungen zur Industrie finden?“
Mittlerweile haben die European Atherosclerosis Society (EAS) und die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) Stellungnahmen veröffentlicht. Europäischen Fachgesellschaften ist ebenfalls klar, dass es keine randomisierten Studien gibt, in denen Statine nach Zielwerten titriert wurden. Experten aus mehreren Ländern, auch aus den USA, kritisieren jedoch eine unzureichende Validierung des neuen Risikoscores. Sinnvoller wäre stattdessen, Patientengruppen zu behandeln, bei denen randomisierten Studien mit Statinen Erfolge bescheinigt haben: Menschen mit erhöhtem LDL-Cholesterin, niedrigen HDL-Werten, erhöhten CRP-Spiegeln, Diabetes oder Hypertonie. Europa wird an seiner bisherigen Strategie festhalten und nicht alle Prinzipien zu Gunsten randomisierter Studien über Bord werfen. Die „epidemiologisch gut belegte Assoziation zwischen LDL-Spiegeln und der Krankheitshäufigkeit“ sowie „Erfahrungen aus den bisherigen Studien zwischen Intensität der LDL-Senkung und Verminderung der Ereignisrate“ bleiben zentrale Leitsätze. Dennoch gibt es versöhnliche Töne: Auch die ESC-Leitlinie bewertet Statine als extrem bedeutsam – mit anderen Wirkstoffen lassen sich entsprechende Zielwerte kaum realisieren. „So sehen wir seitens der DGK eine stärkere Betonung der Statintherapie, als es in den aktuellen ESC-Leitlinien schon der Fall ist, nicht als notwendig an“, heißt es weiter.