Obwohl Pregabalin erst seit zwölf Jahren auf dem Markt ist, häufen sich im Münchener Raum Intoxikationen und Missbrauchsfälle. Andere Städte hingegen kennen das Phänomen noch nicht in dem Ausmaß. Verschreiben Ärzte im Süden den Wirkstoff zu freizügig?
Ärzte verordnen Pregabalin unter anderem zur Behandlung von Angststörungen, neuropathischen Schmerzen und Epilepsie. Im Unterschied zu vergleichbaren Wirkstoffen wirkt das Antikonvulsivum nicht an GABA-Rezeptoren, sondern bindet an spezielle Ionenkanäle im zentralen Nervensystem. In der Folge strömen weniger Kalziumionen ein. Die Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutaminsäure, Noradrenalin und Substanz P normalisiert sich daraufhin wieder. Nun zeigt sich aber, dass der Arzneistoff extrem unerwünschte Nebenwirkungen hat. Nach dem Absetzen kommt es zu teils schweren Entzugssymptomen, was etliche Fälle von Abhängigkeit erklärt. Gleichzeitig greifen Patienten mit Drogenabhängigkeit zu Pregabalin, meist in Kombination mit anderen Substanzen. Die Kombination wirkt sedierend und entspannend.
Bislang gab es vor allem diverse Fallberichte zu Pregabalin-Missbrauch. Nicolas Zeller und Kollegen vom Klinikum rechts der Isar München veröffentlichten dazu kürzlich neue Zahlen. Sie untersuchten dafür Datenbanken nach Pregabalin-Intoxikationen im Zeitraum von 2008–2015. Ihre Ergebnisse:
Erstaunlicherweise war dieser Trend bei Kokain-Vergiftungen nicht ansatzweise zu bemerken:
Typische Pregabalin-Konsumenten waren unabhängig vom Wirkstoff meist männlich und Anfang der 30er-Jahre. Sie hatten in der Vorgeschichte nicht häufiger psychische Erkrankungen als Personen mit anderen Abhängigkeiten. „Unsere Ergebnisse zeigen einen kontinuierlichen Anstieg von Pregabalin-Missbrauch zwischen 2008 und 2015 in unserem Patientenkollektiv“, schreibt Zeller. „Im Untersuchungszeitraum Oktober 2013 bis September 2014 wurde Pregabalin sogar häufiger missbraucht als zum Beispiel Amphetamine oder Kokain.“
Die Ergebnisse überraschen nicht nur absolut, sondern auch hinsichtlich ihrer lokalen Häufung: München scheint besonders stark betroffen zu sein. Bei einer europaweiten Studie mit 16 Zentren kamen 67,5 Prozent aller Missbrauchsfälle aus Bayerns Landeshauptstadt. Acht Einrichtungen hatten keinen einzigen Fall mit Pregabalin-Abusus vorzuweisen. Zeller liefert allerdings keine Erklärungen für die Unterschiede. Liegt es am freizügigen Verschreibungsverhalten vieler Ärzte in München? Oder ist Pregabalin auf dem Münchener Schwarzmarkt besonders leicht erhältlich? Diese Fragen wären noch zu klären. Aktuell fordert der Erstautor Ärzte auf, Patienten über das „nicht unerhebliche Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial“ zu informieren. Dies sei speziell bei Neuverschreibungen und bei laufender Opioid-Substitution wichtig.