Viel hilft viel – von dieser Maxime sind Diabetologen mittlerweile abgerückt. Sie setzen auf individuelle Behandlungskonzepte und sinnvolle HbA1C-Werte. Und: Mit neuen Wirkstoffen rutschen Patienten seltener in gefährliche Hypoglykämien.
Weltweit erkranken mehr und mehr Menschen an Diabetes mellitus beziehungsweise Adipositas. Grund genug für die Weltgesundheitsorganisation WHO, Ernährungsempfehlungen kritisch zu hinterfragen. Die alte Maßgabe zum Zuckerkonsum, sprich weniger als zehn Prozent der täglichen Energiezufuhr, soll halbiert werden. Für Erwachsene mit durchschnittlichen Körpermaßen wären statt maximal 50 Gramm nunmehr 25 Gramm an Mono- und Disacchariden tolerierbar. Noch bis Ende des Monats können Fachkreise den neuen Entwurf kommentieren. Parallel findet ein Peer-Review-Prozess statt.
Experten diskutieren momentan nicht nur über die Zuckeraufnahme, sondern auch über sinnvolle HbA1C-Werte. Laut Chin-Lin Tseng, New Jersey, haben über 65-jährige Diabetiker in den USA immense Probleme. Hypoglykämien sind an zweiter Stelle bei medikamenteninduzierten Krankenhausbehandlungen zu nennen – nach Zwischenfällen durch Cumarin-Derivate wie Warfarin. Um mehr über das Thema zu erfahren, analysierte Tseng HbA1C-Werte bei mehr als 650.000 Patienten einer Kohorte. Sie hatten Sulfonylharnstoffe beziehungsweise Insulin verschrieben bekommen. Bei rund 42 Prozent lag der HbA1C-Wert unter 7,0 Prozent. Tseng berichtet, dass gerade multimorbide Diabetiker zu streng eingestellt würden. Unter allen Hochrisikopatienten hatten 10 Prozent HbA1C-Werte < 6,5 Prozent, und 44 Prozent < 7,0 Prozent. Ihr tatsächlicher Laborwert lag deutlich niedriger als die empfohlenen 7,0 bis 8,0 Prozent. Eigentlich nicht weiter überraschend: Im Rahmen der ACCORD- und der VADT-Studie hatten Ärzte sogar versucht, mit Insulin und oralen Antidiabetika HbA1C-Werte < 6,0 Prozent zu erzielen. Auf die Inzidenz kardiovaskulärer Risiken wirkte sich ihr Regime nicht positiv aus – im Gegenteil: Bei der ACCORD-Studie fand man sogar eine um 22 Prozent höhere Gesamtmortalität. Strenge und für alle Patienten gültige Therapieziele sollten besser zu Gunsten individualisierter Konzepte in der Schublade bleiben, raten US-amerikanische Diabetologen.
Für Ärzte und Apotheker bleiben therapeutische Fragen noch in anderer Hinsicht spannend: Mitte März kommt ein neuer SGLT2-Inhibitor auf den Markt. Canagliflozin, so der Wirkstoffname, hemmt das Transportprotein SGLT2 (Sodium dependent glucose co-transporter) im proximalen Tubulus. Patienten scheiden aufgrund der schlechteren Rückresorption mehr Glucose über ihren Harn aus. So weit, so bekannt. Dapagliflozin, ebenfalls ein Vertreter aus der Klasse der Gliflozine, scheiterte bei der frühen Nutzenbewertung – jedoch mehr aus formalen denn aus medizinischen Gründen. Bleibt abzuwarten, welches Schicksal Canagliflozin erleiden wird. Kurz zu den Eigenschaften: Neben der Blutzuckersenkung verlieren Patienten mehr Gewicht als beispielsweise unter Sitagliptin. Auch kommt es durch die osmotische Diurese zu einer leichten Blutdrucksenkung, deren klinische Relevanz sich momentan schwer beurteilen lässt. Durch ihren insulinunabhängigen Wirkmechanismus verursacht Canagliflozin an sich keine Hypoglykämien. Dem gegenüber leiden vor allem ältere Patienten unter zusätzlichen Toilettengängen. Trinken sie wenig, sind Exsikkosen vorprogrammiert. Ihre glomeruläre Filtrationsrate sollte nicht unter 45 ml/min/1,73 m2 liegen. Aufgrund des höheren Glucosegehalts im Harn treten vermehrt Harnwegsinfekte (5,9 Prozent bei 300 mg Canagliflozin versus 4,0 Prozent unter Placebo) und vaginale Pilzinfektionen (11,4 versus 3,2 Prozent) auf.
Zurück zum Kampf gegen Hypoglykämien: Gefährlich niedrige Zuckerwerte lassen sich auch über Insulinanaloga vermeiden. Im Vergleich zu Insulin Glargin zeigt das neue Insulin Degludec besonders gute Eigenschaften. Forscher stellten in sieben Phase-3-Studien Insulin Degludec (2899 Patienten) und Insulin Glargin (1431 Patienten) gegenüber. Sie fanden bei einer Metaanalyse, dass sowohl Typ-1- als auch Typ-2-Diabetiker mit dem neuen Insulin deutlich seltener nächtliche Unterzuckerungen haben. In Deutschland wird Insulin Glargin bis Mitte 2014 verfügbar sein. Die US Food and Drug Administration äußerte sich jedoch kritisch. Sie forderte den Hersteller in einem „Complete Response Letter“ auf, noch vor einer möglichen Zulassung Daten über die kardiovaskuläre Sicherheit zu erheben.
Bleibt als Problem, dass Blutglucosemessungen teilweise zu ungenau sind. Hier schafft die neue ISO-Norm 15197:2013 Abhilfe durch strengere Qualitätsstandards. Werte unter 100 mg/dl (5,55 mmol/l) dürfen nur noch um ± 15 mg/dl (± 0,83 mmol/l) von Labortests abweichen. Bei Spiegeln über 100 mg/dl sind es maximal ± 15 Prozent. Ein zusätzlicher Pluspunkt: Hersteller müssen gewährleisten, dass die Messgenauigkeit auch bei Patienten ohne vorherige Einweisung erreicht wird. Hier geht es darum, Anwendungsfehler durch einfache und verständliche Geräte und verständliche Informationsmaterialien zu minimieren.