Der Ärztenachwuchs will ihn, 18 EU-Länder haben ihn längst eingeführt: den Facharzt für Notfallmedizin. Doch hierzulande halten ihn etablierte Fachgesellschaften weiterhin für unnötig. Zu Recht? Oder fürchtet man die Abwanderung der Jungärzte in neue Tätigkeitsfelder?
„Deutschland tut sich ja, trotz entsprechender EU-Richtlinie, sehr schwer mit der Einführung eines Facharztes für Notfallmedizin“, schreibt ein Mannheimer Medizinstudent im dritten Semester in einem Forum. „Bis ich mit meinem Medizinstudium [...] fertig bin, erwarte ich da nicht viel.“ Dabei sei für ihn als ehemaligen Rettungsassistenten gerade die Notfallmedizin mit klinischer Karriere in der Notaufnahme genau das, was er später gerne machen wolle. Nun erwäge er eine Facharztausbildung im Ausland. Ob jemand da helfen könne, fragt er.
Dass der Mannheimer Medizinstudent mit diesem Problem nicht alleine dasteht, zeigt eine Online-Umfrage, die der Assistenzarzt Dr. Lars Lomberg im vergangenen Jahr unter deutschen Medizinstudenten durchgeführt hat: Mithilfe eines Fragebogens zur Notfallmedizin und einer eventuellen Facharztqualifikation sollten die jeweiligen Erfahrungen und Meinungen der Studenten evaluiert werden. Das Ergebnis: 88 Prozent der 526 Teilnehmer zeigten „sehr großes“ bis „großes“ Interesse an einer Fachqualifikation für Notfallmedizin. 56 Prozent davon gaben an, ein solcher Facharzt sei überfällig.
Seit Jahren versucht die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) durchzusetzen, dass die Facharztbezeichnung „Notfallmedizin“ in die (Muster-)Weiterbildungsordnung (MWBO) übernommen wird. Prof. Dr. Christoph Dodt, DGINA-Präsident und Leiter einer Notaufnahme in München, spricht sich immer wieder für einen Facharzt für Notfallmedizin aus. Benötigt werde ein breit ausgebildeter ‚ärztlicher Manager‘, der auf viele Notfälle spezialisiert ist, und die Abläufe in der Notaufnahme eines Krankenhauses koordinieren kann. Dieser soll zügig die richtige Diagnose erstellen, um den Patienten direkt zu behandeln oder an einen geeigneten Spezialisten weiterzuleiten, der dann die bestmögliche Therapie anordnen kann. Im Rahmen des 115. Deutschen Ärztetages im Mai 2012 forderte u. a. Dr. Werner Wyrwich, Vorstand der Ärztekammer Berlin, die für die Weiterbildung verantwortlichen Gremien der Bundesärztekammer auf, die klinische Notfallmedizin in der MWBO zu verankern. Fachlich begründetet er das damit, dass die klinische Akut- und Notfallmedizin im 21. Jahrhundert nicht mehr Nebenprodukt anderer Fachdisziplinen sei. Die Diversifizierung der medizinischen Fächer, die zunehmende Bedeutung chronischer Erkrankungen ebenso wie die Multimorbidität erforderten im Umkehrschluss Fachdisziplinen mit hoher akuter Handlungskompetenz und interdisziplinärem Denken und Handeln. Darüber hinaus wurde auch der berufspolitische Aspekt betont: „Eine zunehmende Zahl von Klinikärzten will auf Dauer im Bereich der klinischen Akut- und Notfallmedizin tätig sein.“ Deshalb müsse diesen Kollegen „die Perspektive gegeben werden, eine Qualifikation zu erreichen, die sich auch in der Weiterbildungsordnung abbildet: für ihre Arbeitszufriedenheit, zu ihrer rechtlichen Absicherung und um ein angemessenes Entgelt als Facharzt zu erzielen.“
Andere europäische Länder zeigten sich in dieser Hinsicht weitaus entschlossener: Den Angaben der beiden europäischen Ärztevereinigungen EuSEM (European Society for Emergency Medicine) und UEMS (Union européenne des médecins spécialistes) zufolge ist die Notfallmedizin in 18 EU-Mitgliedstaaten – etwa Großbritannien, Frankreich, Tschechien, Polen, Irland – als unabhängiges Spezialgebiet längst etabliert, und der sogenannte Emergency Physician in den Weiterbildungsordnungen verankert. Am 20. April des letzten Jahres empfahlen beide Ärztevereinigungen in einem gemeinsamen „Policy Statement“ die Etablierung der Notfallmedizin als eigene medizinische Fachrichtung in allen europäischen Staaten. „Wieso also dieser deutsche Alleingang?“ ist eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang zwangsläufig aufdrängt. Wenn man wiederum bedenkt, dass sich die Umstellung der etablierten deutschen Bildungsabschlüsse Magister und Diplom auf das international ausgerichtete Bachelor- und Master-System in der Vergangenheit auf mehreren Ebenen als problematisch erwiesen hat, könnte man zumindest nachvollziehen, dass manche Involvierte der angestrebten europäischen Harmonisierung in der Notfallmedizin durchaus skeptisch gegenüberstehen.
Am deutschen Sonderfall wollen vor allem der Bundesverband Deutscher Chirurgen (BDC), die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI) festhalten. Was die Empfehlungen der europäischen Gremien betrifft, kontern sie, dass einige europäische Länder, beispielsweise Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Großbritannien, durch finanzielle und personelle Lücken zur Einführung des Facharztes für Notfallmedizin gezwungen worden seien. Im August des letzten Jahres warnten die drei Fachgesellschaften in einer gemeinsamen Stellungnahme vor der Einführung eines solchen Facharztes. Die Begründung: Nach dem Ärzteweiterbildungsgesetz (§2 AWBG) lägen derzeit keine Voraussetzungen für die Schaffung einer neuen Facharztbezeichnung vor. Denn solche sollten nur dann von den Kammern geschaffen werden, wenn „dies im Hinblick auf die wissenschaftliche Entwicklung und eine angemessene Versorgung der Bevölkerung … erforderlich ist“.
Zwar meinen auch die Fachgesellschaften, dass die klinische Notfallversorgung in Deutschland weiter optimiert werden müsse. Ein Faktor solle aber bleiben: dass sich die einzelnen Fachdisziplinen die Aufgabe der Notfallversorgung weiterhin interdisziplinär teilen sollten. Anästhesisten, Chirurgen, Innere Mediziner, Kardiologen, Neurochirurgen, Neurologen oder Fachärzte der Pädiatrie sollten dort zusammenarbeiten. Allein auf diese Weise könne man allen Patienten, die die Notaufnahme einer Klinik aufsuchen, einen „Facharztstandard“ bieten. Entscheide man sich aber für einen Facharzt in der Notfallmedizin, könne dieser lediglich Teilaspekte der einzelnen Bereiche abbilden, da sich seine Ausbildung eher an der Breite des Wissens als an der Tiefe orientiere. Ihre größte Sorge: Er könne nicht eigenständig therapieren, weil „ein Allrounder, der von allen Fachbereichen ‚etwas‛ Ahnung hat, keine Verbesserung der Versorgequalität darstellt“.
Die Facharzt-Befürworter halten dagegen: Zwar poche die DIVI auf den „Facharztstandard“ in den deutschen Notaufnahmen, doch das, was in der Theorie so professionell klinge, sehe in der Versorgungswirklichkeit vieler Krankenhäuser anders aus: Immer wieder berichten Mediziner, die in den Notaufnahmen arbeiten, dort seien vielfach keine Fachärzte, sondern Assistenten in der Weiterbildung am Werk. Deshalb wohl auch der Verweis Wyrwichs u. a. auf den haftungsrechtlichen Aspekt: „Die Versorgung von Akutpatienten durch einen Assistenten in der Weiterbildung, der neben seiner Fachabteilung ‚nebenbei‘ auch die Notaufnahme mit chirurgischen, internistischen, pädiatrischen und gynäkologischen Notfällen betreut, ist fachlich, medikollegial und aus Gründen der Patientensicherheit nicht mehr aufrecht zu erhalten.“
Hinzu kommt die Befürchtung, dass Assistenz- und Fachärzte aus hochspezialisierten Fachdisziplinen ein Problem nicht immer richtig einschätzen können, da ihnen das entsprechende Know-how fehle. Zumindest bestehe die Gefahr, dass eine fachspezifische Sicht die Symptomatik aus anderen Fachbereichen ausblende. Eins betonen die Befürworter in der Facharztdiskussion immer wieder: Der von ihnen geforderte Generalist in der Notaufnahme solle keineswegs die anderen Fachdisziplinen ersetzen.
Dennoch erreichte die Debatte kurz vor Jahresende neue Dimensionen: Bis vor wenigen Monaten war die DGINA noch ein förderndes Mitglied der DIVI. Am 29. November 2013 beschloss deren Präsidium, die DGINA auszuschließen. Der Grund: Beide hatten bei der Novellierung der MWBO durch die Bundesärtzekammer unterschiedliche Vorschläge hinsichtlich der Zusatzweiterbildung im Bereich der Notfallmedizin eingereicht. Die DGINA beantragte eine dreijährige Zusatzweiterbildung „Notfall- und Akutmedizin“, die sich an den europäischen Empfehlungen orientierte, und eben darin sah die DIVI eine öffentliche Forderung für einen eigenen Facharzt für Notfallmedizin und damit eine Negation eines wichtigen satzungsgemäßen Zieles ihrer Vereinigung. Der Vorschlag der DIVI sah hingegen Folgendes vor: ein ärztlicher Leiter, der durch die zweijährige Zusatzweiterbildung „Interdisziplinäre Notaufnahme“ qualifiziert ist, solle die Zusammenarbeit in der klinischen Notaufnahme koordinieren. Eins ihrer Argumente mag aber manch einen irritieren: „In zentralen Notaufnahmen mit einer Vielzahl an Erkrankungen und Leitsymptomen wird der „breite“ Blick benötigt,“ so die DIVI in ihrem Konzept. Kurz also: Keine Allrounder, aber einen Leiter mit einem breiten „Blick“?
Bisher lehnte die DIVI die Einführung des Facharztes für Notfallmedizin offiziell allein aus Qualitätsgründen ab. Am 23. Juli 2013 rückte das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ die Facharztdebatte in ein brisanteres Licht: In einem internen Schreiben aus dem Jahre 2012 soll Prof. André Gries, Leiter einer Notaufnahme an der Uniklinik Leipzig und führendes DIVI-Mitglied, geschrieben haben: „Viele junge Kollegen und Kolleginnen finden den Weg in die klinische Medizin heute vor dem Hintergrund ihres Interesses an der Notfallmedizin.“ Spätestens dann, wenn der Facharzt für Notfallmedizin in einzelnen Bundesländern eingeführt werde, hieß es weiter, „stehen diese Kolleginnen und Kollegen den traditionellen Fächern in anderen Bundesländern noch weniger zur Verfügung.“ Demnach fürchte die Lobby der Fachärtze eine Abwanderung junger Ärzte in Richtung Notfallmedizin. Selbst wenn es so wäre, könnte man dieser Befürchtung nicht anders als mit einem Boykott entgegenwirken? Etwa mit der Einführung einer Quote, die festlegt, wie viele angehende Assistenzärzte sich prozentual auf einen solchen Fachbereich festlegen dürften. http://www.youtube.com/watch?v=2NGRcdCremQ
Schon vor sieben Jahren schrieb Dr. med. Thomas Fleischmann, Chefarzt des Notfallzentrums, Klinik Hirslanden in Zürich: „Auf Grund der klaren Vorteile für die Patienten, die Kliniken und den Ressourcenverbrauch und gefördert durch die Entwicklungen in Europa, bestehen kaum mehr Zweifel, dass der Facharzt für Notfallmedizin auch in Deutschland eingeführt wird. In der notfallmedizinischen Szene wird kaum mehr darüber diskutiert, ob dies geschieht, sondern nur noch wann.“ Ist „Wann? “ immer noch die entscheidende Frage?
Für alle an der Notfallmedizin interessierten jungen Ärzte ist derzeit die Assistentenplattform YED (Young Emergency Doctors) eine gute Anlaufstelle. Seit 2008 versucht die Arbeitsgruppe der DGINA, die Entwicklungen auf diesem Gebiet voranzutreiben und die „Notfallmedizin für die Bedürfnisse von Assistenzärzten aufzubereiten“, indem sie z. B. günstige Fortbildungen von Assistenzärzten für Assistenzärzte in Kooperation mit weiteren Organisationen anbietet. Die YEDs verstehen sich selbst auch als Sprachrohr für die Bedürfnisse der nächsten Medizinergeneration in berufspolitischen Fragen zum zukünftigen Facharzt für Notfallmedizin.
Sich im Ausland ausbilden zu lassen, ist dagegen oft keine wirkliche Alternative. Diejenigen, die sich dazu entschließen, müssen hinnehmen, dass diese Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird. Auch die Emergency Physicians aus anderen Ländern haben keine Möglichkeit, ihre fachärztliche Tätigkeit in Deutschland auszuüben. So sind auch die Antworten, die der Medizinstudent aus Mannheim auf seine Frage bekommen hat, eher ernüchternd: „Du würdest also vielleicht zwei Jahre in Großbritannien ackern, und damit eine deutsche Quali im Wert von zwei Wochen erwerben. Würde das dann nicht darauf hinauslaufen, dass Du gleich besser im Ausland bleiben müsstest?“ Wird bald auch der Facharzt für Notfallmedizin – neben den NC-Hürden oder besseren Arbeitsbedingungen – ein Grund dafür sein, dass angehende Medizinstudenten oder Assistenzärzte Deutschland den Rücken kehren? Sollte der Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland eingeführt werden? Die Meinungen gehen weit auseinander. Was haltet Ihr davon? Diskutiert in den Kommentaren!