Die Zahl der Organspender ist in Deutschland auf einem historischen Tiefststand. Ein neuer Transplantationsskandal kommt genau zum falschen Zeitpunkt. Wo liegen die Schwächen im System – und wie gelingt es, das Vertrauen von Bürgern zurückzugewinnen?
Seit Jahren verringern Skandale rund um Organtransplantationen die Spendebereitschaft in Deutschland. Wurden 2010 laut Statista noch bei 1.296 Verstorbenen Organe entnommen, lag der Wert in 2017 bei 797 Fällen. Und derzeit warten mehr als 10.000 schwer kranke Menschen auf eine Leber, eine Niere, ein Herz oder eine Lunge. In den genannten Zeitraum, in dem die Spendebereitschaft sank, fiel auch der Transplantationsskandal 2010/2011. Darin waren Zentren in Göttingen, Leipzig, München und Münster verwickelt. Sie hatten systematisch falsche Patientendaten gemeldet, um Organe mit höherer Priorität zu bekommen. Und nun ein neuer Fall: Vor wenigen Tagen geriet ein Essener Klinikum in die Schusslinie. Was ist passiert?
Zahl der postmortalen Organspenden in Deutschland © Statista, Screenshot: DocCheck Die Staatsanwaltschaft Essen beschuldigt Prof. Andreas P., den Direktor der Klinik für Allgemeinchirurgie, Viszeral- und Transplantationschirurgie, zwischen 2012 und 2015 bei sechs Patienten Lebertransplantationen ohne dringende medizinische Indikation vorgenommen zu haben. Ein Betroffener soll mittlerweile verstorben sein. Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung in fünf Fällen, wegen Totschlags in einem Fall und wegen Verstoßes gegen das Transplantationsgesetz in zwei Fällen laufen. Details nennt die Staatsanwaltschaft nicht. Sie hat etliche Patientenakten beschlagnahmt und prüft derzeit, ob weitere Ärzte beteiligt sind. Der betroffene chirurgische Leiter sitzt wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Er bestreitet Medienberichten zufolge alle Vorwürfe.
Was wirklich überrascht: Vor mehr als einem Jahr stieß eine Prüfungs- und Überwachungskommission in Essen auf „schwerwiegende Rechtsverstöße“. Es sei „willentlich und systematisch gegen geltendes Recht verstoßen worden“. Das Gremium überwacht im Auftrag der Bundesärztekammer, des GKV-Spitzenverbands und der Deutschen Krankenhausgesellschaft, ob alle Vorgaben zur Organtransplantation eingehalten worden sind. Prof. Dr. Jochen A. Werner, Vorstandsvorsitzender am Uniklinikum Essen, bezeichnete damals die Vorwürfe in einer Meldung als „weitgehend haltlos“. Für ihn steht fest, dass „am UK-Essen zu keiner Zeit willentlich und bewusst Rechtsverstöße stattgefunden haben.“ Also stellte er sich damals hinter Andreas P. und sprach ihm sein „vollstes Vertrauen“ aus. Das könnte Werner vielleicht schon bald bitter bereuen. Denn der genannte Untersuchungsbericht inklusive fehlender Konsequenzen war für Staatsanwälte Grund genug, Ermittlungen einzuleiten. Laut WAZ droht Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) mit Konsequenzen: Man prüfe, ob das Transplantationszentrum seinen Versorgungsauftrag noch wahrnehmen könne oder aus dem Krankenhausplan des Landes genommen werden müsse. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, „hätten wir es mit einem schlimmen Verbrechen zu tun“, ergänzt Laumann. Das Gesundheitsministerium habe bereits in der Vergangenheit solche Schritte in Erwägung gezogen, aber aufgrund der damaligen Faktenlage nichts unternommen. Es geht aber nicht nur um die Bewertung des Einzelfalls in Essen, sondern um die Frage: Was muss sich in Deutschland ändern?
Seit Jahren werde beteuert, es handele sich bei Transplantationsskandalen um Einzelfälle, kommentiert Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Aber das Problem sei systemimmanent, denn „so lange der Staat nicht die Verteilung von Lebenschancen übernimmt, stolpern wir von einem Skandal in den anderen“, sagte er der FAZ. „Und die Vertrauenskrise der Bevölkerung wird immer tiefer.“ In einer Stellungnahme seiner Stiftung geht der Experte auf Schwachstellen im Transplantationssystem ein: Der Staat habe „alles unternommen, um keine Verantwortung zu übernehmen, weder bei den Richtlinien der Organentnahme noch bei der Organisation, der Verteilung oder der Aufsicht.“ Bryschs Hauptkritikpunkt: „Nach wie vor liegt alles in den Händen privater Akteure.“ Weder die Bundesärztekammer noch die Deutsche Stiftung Organtransplantation dürften über Lebenschancen entscheiden. Brysch kann sich tiefgreifende Änderungen gut vorstellen: „Um Patienten zu schützen und Gerechtigkeit herzustellen, muss das Transplantationssystem in staatliche Hände übergeben werden.“
Das Problem ist laut „Report Mainz“ aber deutlich komplexer. Mitte August, sprich kurz vor Bekanntwerden des Essener Skandals, entdeckten Reporter weitere Schwächen im System. Sie geben Kliniken eine Mitschuld. Dr. Kevin Schulte und Professor Dr. Thorsten Feldkamp vom Uniklinikum Schleswig-Holstein in Kiel haben alle Todesfälle in deutschen Krankenhäusern zwischen 2010 und 2016 ausgewertet. Schulte sagt im TV-Beitrag, Kliniken würden potenzielle Organspender zu selten erkennen und zu selten melden. Nach seinen Berechnungen wären in 2015 genau 2.780 Organspenden möglich gewesen, aber nur in 877 Fällen wurden Organe tatsächlich entnommen. Aber warum? „Die Organentnahme ist ein Minusgeschäft, wenn man sich vor Augen hält, dass wir insgesamt bei der Entnahme mehrerer Organe eine Vergütung von 5.000 Euro erhalten“, erklärt Irmtraut Gürkan, kaufmännische Direktorin der Uniklinik Heidelberg, gegenüber „Report Mainz“. „Dieser Betrag reicht nicht aus.“ Aktuell würden nur die unmittelbaren Kosten, sprich Personal, Material und OP-Saal, gedeckt. „Er deckt aber nicht die Betreuung von Spendern in Intensivstationen ab.“ Aufwändige Untersuchungen des Patienten kommen mit hinzu. Auch das Bundesgesundheitsministerium erklärt den Mangel an Spenderorganen u.a. mit Schwachstellen in der Organisation, mit Arbeitsverdichtung im klinischen Alltag und mit einer „unzureichenden Vergütung der Organentnahme“.
In der Diskussion dürfen die Organspender selbst nicht vergessen werden. Wie DocCheck berichtet hat, kann sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorstellen, die geltende Zustimmungsregelung bei Organspenden durch eine Widerspruchslösung zu ersetzen. Dahinter steht auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Haben Patienten nicht zu Lebzeiten ihr Veto eingelegt, können Organe entnommen werden. Ein Veto von Angehörigen wäre nach dem Tode eines Patienten auch möglich. Die Widerspruchslösung gibt es schon in vielen europäischen Nationen, etwa in Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenstein, Luxemburg, in den Niederlanden, in Österreich, Polen, Portugal, in der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Türkei, Ungarn und Zypern. Nicht alle Experten teilen Spahns Sichtweise. Prof. Dr. Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, kritisierte alle Pläne im Deutschlandfunk scharf. Dies würde einen „tiefen Eingriff in das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper“ bedeuten. Und Schweigen würde als eine Zustimmung ausgelegt. Dabrock führt höhere Zahlen an Spendern in anderen Nationen weniger auf die Widerspruchslösung, sondern eher auf bessere Organisationsstrukturen zurück.
Doch Spahn setzt nicht nur auf die Widerspruchslösung. Sein Ministerium hat ein Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO) als Referentenentwurf veröffentlicht. Ziel ist es, die Rolle von Transplantationsbeauftragten zu stärken. Sie erhalten uneingeschränkten Zugang zu Intensivstationen und Patientenakten. Auch personell soll es besser werden. Als Quote nennt Spahn 0,1 Stellen je 10 Intensivbehandlungs- bzw. Beatmungsbetten. Eine komplette Refinanzierung über die Kostenträger ist vorgesehen. Auch die Organentnahme soll für Kliniken kein Minusgeschäft mehr sein, der Minister will bessere Vergütungen durchdrücken. Mehr staatliche Verantwortung bei der Organvergabe kommt für Spahn aber nicht infrage.