Geht es nach der Weltgesundheitsorganisation, dann sollte die Menschheit ihren Zuckerkonsum drastisch reduzieren. Noch darf über den ambitionierten Vorstoß jedoch diskutiert werden.
Zucker hat es zurzeit nicht leicht. Überall wird er zerrissen, von Droge ist die Rede oder von einer gefährlichen Zeitbombe. In regelmäßigen Abständen erscheinen Studien über schädliche Auswirkungen auf den Körper. Für Übergewicht soll er mitverantwortlich sein, für Diabetes, Herz-Kreislauf-Störungen, Karies sowieso und sogar Krebs. Seit Jahren predigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), nicht mehr als 10 Prozent seines Energiebedarfs über Zucker zu sich zu nehmen. Bei einem normalgewichtigen Erwachsenen mit durchschnittlichem Energieverbrauch wären das rund 50 Gramm Zucker am Tag oder zwölf Teelöffel. Nun hat sie noch einmal nachgelegt. In einem Entwurf, den die UN-Organisation vor Kurzem in Genf vorgelegt hat, plädiert die WHO für eine noch stärkere Reduktion der Zuckeraufnahme. Nicht mehr als fünf Prozent des Energiebedarfs soll nunmehr über Zucker gedeckt werden. Die Vorgaben der WHO schließen alle Mono- und Disaccharide ein, die natürlich in Lebensmitteln vorkommen, „pur“ verwendet oder Lebensmitteln zugesetzt werden. Letztlich zählen dazu auch Honig oder Fruchtsaftkonzentrate.
Die WHO will damit dem weltweit wachsenden Problem von Volkskrankheiten wie Adipositas und Diabetes begegnen. Gerade in Schwellenländern lässt sich eine rasante Zunahme von Diabetes beobachten. Schätzungen der Internationalen Diabetes Gesellschaft (IDF) gehen von aktuell 371 Millionen Diabetikern weltweit und von einer Dunkelziffer von weiteren 187 Millionen aus. Vier von fünf Patienten leben danach in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Auch in Deutschland ist die Krankheit schon lange ein Problem. Lag der Anteil der Diabetiker in Deutschland 1960 noch bei 0,6 Prozent, stieg er Ende der achtziger Jahre auf über vier Prozent. Heute leben bereits mehr als sieben Prozent der Erwachsenen mit der Diagnose Diabetes. Hinzu kommen wahrscheinlich noch etwa zwei Prozent. Das sind die Menschen, die zwar schon eine Diabetes-Erkrankung entwickelt haben, es aber noch nicht wissen. Vor allem das wachsende Problem des Übergewichts bringt immer neue Diabetiker hervor. Aktuell gelten ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland als adipös.
Doch nicht nur Fettleibigkeit und seine Folgen will die WHO mit dem Verzicht angehen. Eines seiner wichtigsten Ziele ist Prävention von Zahnkaries. Die Behandlung von Zahnkrankheiten koste die Industrieländer zwischen 5 und 10 Prozent ihrer Gesundheitsbudgets, so die WHO. Ärmere Länder hätten noch nicht einmal das Geld zur Verfügung, um sich in diesem Maße um die kranken Zähne seiner Kinder zu kümmern. Professor Susan Jebb, von der Oxford Universität sagte: „Die WHO-Empfehlungen senden den Konsumenten eine klare Botschaft über die Risiken von Zucker.“ Die größte Herausforderung sei es jedoch Menschen eine gesunde Ernährung zu zeigen.
Den Meisten dürfte nicht bewusst sein, wie viel Zucker sie jeden Tag zu sich nehmen. Vor allem in verarbeiten Produkten verstecke sich viel Zucker, selbst in Lebensmitteln, die gar nicht als sehr süß empfunden werden, so die WHO. So enthalte ein Esslöffel Ketchup einen Teelöffel voll Zucker, also etwa vier Gramm. Ein Glas Limonade könne sogar bis zu 10 Teelöffel Zucker enthalten. Wie viel Süße in einzelnen Lebensmitteln enthalten ist, lässt sich jedoch nur schwer erkennen. Die winzigen Kennzeichnungen auf den Verpackungen sind oft unverständlich. Kaum jemand weiß, mit wie vielen unterschiedlichen Namen Süßmacher daherkommen können. Dass ein Verzicht von Zucker Vorteile bietet, haben Wissenschaftler schon gezeigt. Bevor die WHO eine neue Empfehlung aussprach, wertete sie die Literatur zu diesem Thema aus, 9000 Studien wurden analysiert. Mit dabei auch diese von der WHO beauftragte Metaanalyse aus dem vergangenen Jahr: Die Ernährungsmediziner Lisa te Morenga und Jim Mann von der neuseeländischen University of Otago durchforsteten 71 hochwertigen Studien. Die Dauer der Studien war zwar nicht besonders lang, ein Effekt zeichnete sich trotzdem ab: Die Menschen, die ihren Zuckerkonsum den zu dieser Zeit aktuellen WHO-Empfehlungen anpassten, verloren in innerhalb von zehn Wochen bis acht Monaten im Durchschnitt 0,8 Kilogramm Körpergewicht. Die Autoren der Studie kamen schon damals zu dem Schluss, dass es für die meisten Länder vernünftig erscheine, den Zuckerkonsum zu kontrollieren, um das Risiko von Übergewicht und Fettleibigkeit zu reduzieren.
Der neue Vorstoß ist ambitioniert. Schon die alten Forderungen waren weit von der Realität entfernt. Der Durchschnittsdeutsche nimmt nämlich nicht 20 und auch nicht 50 Gramm zu sich, sondern 90. Noch bis Ende März können interessierte Fachkreise die neuen Empfehlungen kommentieren. Parallel dazu läuft nach WHO-Angaben ein Peer-Review-Prozess. Die Ergebnisse aus beiden Verfahren sollen in die künftige Richtlinie einfließen. Nicht jeder dürfte über die Forderungen glücklich sein. Die neue WHO-Regel könnte vielen Lebensmittelproduzenten das Geschäft vermiesen. Gesüßte Lebensmittel lassen sich einfach besser verkaufen. Dem Konsumenten schmeckt die Extraportion Zucker. Dabei würde die Industrie es gern belassen. Schon vor einigen Jahren, als die WHO empfahl, weniger als zehn Prozent der täglichen Kalorien als Zucker zu konsumieren, lief die Süßwarenindustrie Sturm. Sie drängte den US-Kongress, Gelder für die WHO zu streichen. Ob es auch dieses Mal zu ähnlich aufgeregten Reaktionen kommen wird, bleibt abzuwarten.
Die meisten Gesundheitsexperten begrüßen jedoch eine Zuckerreduktion. Nur wie weit diese gehen soll, darüber herrscht noch Uneinigkeit. Professor Tom Sanders vom King's College London etwa gab zu bedenken, dass ihm keine Studien bekannt seien, die zeigen: Solch ein Ziel ist machbar. Zudem hält er die Definitionen der WHO für verwirrend. So würde der Zucker in Milch oder Früchten scheinbar nicht in die Rechnung einfließen. Mit ein paar Früchten und einem großen Glas Milch würde man jedoch schon auf 60 Gramm Zucker kommen. Und auch Dr. Nita Forouhi, von der Universität Cambridge hält das ursprüngliche Ziel von 10 Prozent für das realistischere.