Neue Medikamente scheitern oft, weil sie unerwünschte Nebenwirkungen hervorrufen. Forscher haben eine Simulationssoftware entwickelt, die Eigenschaften von Wirkstoffen voraussagt und virtuell neue Wirkstoffe baut.
Dabei nimmt sich die Software das Verhalten von Ameisen zum Vorbild. Der Weg zu einem neuen Medikament ist lang. Ist ein Angriffspunkt für einen neuen Wirkstoff identifiziert – beispielsweise ein bestimmtes Protein, das eine zentrale Rolle bei einer Krankheit spielt – muss anschliessend der passende Wirkstoff entwickelt werden. Dazu durchforsten Pharmafirmen ihre Chemikaliensammlungen nach Stoffen, die auf das Zielprotein wirken. Oft sind diese Stoffe aber nur der Ausgangspunkt für einen langwierigen Prozess des Anpassens und Ausprobierens: Chemiker versuchen mithilfe von Computersimulationen das neue Wirkstoffmolekül so zu designen, dass es möglichst genau die gewünschten Eigenschaften hat. Unerwünschte Nebeneffekte kommen oft erst zutage, wenn der Wirkstoff hergestellt und getestet wird, schlimmstenfalls sogar erst in klinischen Studien. Bereits am Computer vorherzusagen, welche unerwünschten Nebeneffekte ein Molekül haben wird, ist bisher nur eingeschränkt möglich. "Unser Ziel ist, Probleme möglichst früh zu erkennen und nur die vielversprechendsten Wirkstoffe zu synthetisieren", erklärt Gisbert Schneider, Professor für Computergestütztes Wirkstoffdesign am Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich. Viele Kandidaten, die neben den erwünschten auch unerwünschte Effekte mit sich bringen, könnten so frühzeitig aussortiert werden.
Das Forscherteam um Schneider hat ein Simulationsmodul entwickelt, welche mögliche Nebeneffekte von Wirkstoffmolekülen schneller und genauer vorhersagen kann als bisherige Programme. Dabei prüft der Algorithmus innerhalb weniger Minuten die Wechselwirkung des jeweiligen Moleküls mit 640 menschlichen Proteinen. "Wir haben damit das momentan leistungsfähigste Vorhersagemodul", so Schneider. Ein Testlauf mit einem cholesterinsenkenden Wirkstoff, Fenofibrat, von dem bereits Nebeneffekte bekannt sind, zeigte alle bekannten sowie mehrere bisher unbekannte Wechselwirkungen. Auf letztere könnten einige der bisher ungeklärten Nebenwirkungen des Medikaments zurückzuführen sein. Das von Schneiders Team entwickelte Computermodul kann jedoch noch mehr: Aus einem virtuellen Baukasten kombiniert es Molekülbausteine, um neue Wirkstoffe vorzuschlagen. Auch für diese überprüft es die jeweiligen Wechselwirkungen mit den 640 menschlichen Proteinen und schlägt die bestmögliche Bausteinkombination vor.
Um der Software zu erlauben, nach neu zusammengesetzten Wirkstoffen zu suchen, nutzte das Forscherteam einen sogenannten Ameisenalgorithmus. Wie eine Ameisenkolonie auf Futtersuche durchforstet der Algorithmus den Molekülbaukasten nach Komponenten mit den gewünschten Eigenschaften. Je nachdem, wie stark die gewünschten und unerwünschten Effekte der neuen virtuellen Produkte sind, erhalten die Bausteine eine Note. In der Welt der Ameisen entspräche dies einer Markierung des Weges zum Futter mit Duftstoff. In einem nächsten Schritt werden die Komponenten neu kombiniert und die Eigenschaften des so erhaltenen Moleküls erneut bewertet. Dabei kann ein anfänglich gut benoteter Baustein aus der engeren Auswahl herausfallen, weil er in Kombination mit einem anderen Baustein zu viele Nebeneffekte besitzt. Die "Duftmarke" des Ameisenalgorithmus schwindet in diesem Fall, während die "Duftmarke" für eine bessere Baustein-Kombination mit jedem virtuellen Kombinationsschritt verstärkt wird. Am Ende findet der Algorithmus – wie die Ameisenkolonie – durch Ausprobieren den kürzesten beziehungsweise besten Weg zum Ziel. "In der Robotik werden Ameisenalgorithmen eingesetzt, um beispielsweise Fertigungsprozesse zu optimieren, aber wir haben den Trick nun auf die Wirkstoffentwicklung übertragen", sagt Schneider. Dadurch, dass nicht nur eine einzelne Ameise den Weg suche, sondern ein ganzer Schwarm – in diesem Fall viele parallel laufende und miteinander kommunizierende Suchprozesse – entwerfe das Simulationsmodul innerhalb weniger Stunden neue Wirkstoffe und schlage direkt die nötigen chemischen Syntheseschritte vor. "Was bisher bis zu zwei Wochen dauerte, schaffen wir dank der neuen Software in einem Tag." In einem nächsten Schritt will Schneiders Team das Computermodul an einen Syntheseroboter koppeln, um Design und anschliessende Synthese vollständig zu automatisieren. Eine Vision für die Zukunft sei, nicht nur den besten Wirkstoff für eine bestimmte Krankheit zu finden, sondern das Medikament für den einzelnen Patienten zu entwickeln, so Schneider. "Wenn man dem Algorithmus die zusätzliche Information geben könnte, wie die Proteinwelt des Patienten aussieht, könnte er die Wechselwirkungen berechnen, die bei diesem bestimmten Patienten zu erwarten sind." So könnte der passende Arzneistoff ausgewählt und der Patient mit möglichst wenigen Nebenwirkungen behandelt werden. Originalpublikation: Identifying the macromolecular targets of de novo-designed chemical entities through self-organizing map consensus Gisbert Schneider et al.; PNAS, doi: 10.1073/pnas.1320001111, 2014