Verhaltens- und Entwicklungsstörungen bei Kindern nehmen dramatisch zu. Neurowissenschaftler machen dafür eine schleichende Chemikalienvergiftung verantwortlich und fordern ein radikales Umdenken – zu Recht?
„10 bis 15 % aller Kinder kommen heutzutage mit einer neurologischen Entwicklungsstörung zur Welt“, schreiben Philippe Grandjean von der Universität von Süddänemark in Odense und Philip Landrigan von der Harvard University in ihrer aktuellen Publikation im Fachmagazin Lancet Neurology. Die Folgen dieser Entwicklungsstörungen seien dramatisch: „Sie vermindern die Lebensqualität, erschweren eine berufliche Entwicklung, ziehen Verhaltensstörungen nach sich und beeinflussen so das Wohl und die Produktivität einer ganzen Gesellschaft.“ Die Neurowissenschaftler machen dafür unter anderem eine schleichende Vergiftung durch Chemikalien in der Umwelt verantwortlich. „Genetische Faktoren spielen bei diesen Erkrankungen zwar auch eine Rolle, können aber die rasante Zunahme an neurologischen Verhaltens- und Entwicklungsstörungen nicht erklären“, so die Wissenschaftler. Lediglich 30 bis 40 % aller neurodegenerativen Störungen seien auf genetische Faktoren zurückführbar, erklären die Forscher, warum sie Umweltchemikalien einen hohen Stellenwert bei der Entstehung dieser Krankheiten einräumen. Doch ist diese Argumentation schlüssig? In ihrer Metastudie sammelten die Forscher Daten, die eine hirnschädigende Wirkung für elf gängige Chemikalien belegen. Sie gehen aber von vielen weiteren unerkannten Giftstoffen aus.
Bereits im Jahr 2006 hatten die Wissenschaftler in einer Metastudie zeigen können, dass die fünf Chemikalien Blei, Methylquecksilber, Arsen und Arsenverbindungen, polychorierte Biphenyle und das Lösungsmittel Toluol die Hirnentwicklung von Kindern nachweisbar stören. Erfasst wurden dabei ein verkleinertes Hirnvolumen, eine verminderte geistige Leistungsfähigkeit, motorische Störungen und ein defizitäres Sozialverhalten. Besonders empfindlich gegenüber giftigen Stoffen, die für einen erwachsenen Organismus möglicherweise völlig unschädlich sind, ist das Gehirn eines Fötus im Mutterleib. Auch die Gehirne von Babys und Kleinkindern können durch Chemikalien weitaus stärker geschädigt werden als ein ausgereiftes Gehirn. Ungeborene Kinder kommen über den Blutkreislauf der Mutter mit Umweltchemikalien in Kontakt, später über die Muttermilch oder über eigenständigen Kontakt.
Etwa sieben Jahre später haben sich die Forscher erneut mit dem Thema befasst und aktuelle Studien zu den neurologischen Auswirkungen von Chemikalien in ihre Metaanalyse einbezogen. In diesem Zeitraum gab es sowohl neue Erkenntnisse zu bereits bekannten neurodegenerativen Chemikalien als auch neue Chemikalien, die dieser Klasse zugeordnet wurden. So kamen beispielsweise sieben internationale Studien zu dem Schluss, dass es beim Kontakt zu Blei offenbar keine unbedenkliche Menge gibt und die Substanz schon in geringen Dosen toxisch sein kann. Die Hinweise verdichten sich, dass der Kontakt zu Blei unwiderrufliche Schäden im menschlichen Gehirn anrichtet. Gehirnaufnahmen von jungen Erwachsenen, die als Kind erhöhte Bleikonzentrationen im Blut aufwiesen, deuteten auf ein vermindertes Hirnvolumen hin. Dies ging mit schlechten Schulleistungen und Verhaltensauffälligkeiten einher.
Nach den fünf bereits bekannten Umweltchemikalien stießen die Forscher in ihrer aktuellen Metastudie auf sechs weitere, die die Hirnentwicklung von Kindern offenbar negativ beeinflussen. Dazu gehören Mangan, Fluorid, das Lösungsmittel Tetrachlorethylen, die Pestizide Chlorpyrifos und DDT/DDE und polybromierte Diphenylether, die zu den organischen Verbindungen zählen.
Beispielsweise lassen Untersuchungen aus Kanada und Bangladesch vermuten, dass Mangan im Trinkwasser Ursache für eine Dyskalkulie und für Hyperaktivität bei Kindern sein kann. 840 Schüler im Alter zwischen acht und elf Jahren aus Bangladesh, die regelmäßig erhöhten Mangankonzentrationen im Trinkwasser (> 400 µg/L) ausgesetzt waren, konnten weniger gut rechnen als Kinder, die unbelastetes Trinkwasser zu sich nahmen. Kanadische Schulkinder, die in der Nähe einer Manganmine lebten, waren ihren Altersgenossen aus unbelasteten Gebieten in ihren intellektuellen, motorischen und olfaktorischen Fähigkeiten deutlich unterlegen. Auch Experimente an Mäusen bestätigten diese Ergebnisse. Ob aber tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Beobachtungen besteht, beantworten die Studien nicht.
Erhöhte Fluoridkonzentrationen im Trinkwasser verminderten offenbar auch die intellektuellen Fähigkeiten von chinesischen Kindern um durchschnittlich 7 IQ-Punkte, wie eine Metastudie aus 27 Einzelstudien zeigte. „Dass andere Substanzen für die neurodegenerativen Auswirkungen verantwortlich waren, konnte in den allermeisten Studien ausgeschlossen werden“, so die Wissenschaftler. Doch auch hier ist der Nachweis einer Kausalität noch nicht erbracht worden. Denn Fluorid im Trinkwasser kann auch positive Effekte mit sich bringen: Eine Metastudie aus dem Jahr 2008 kam zu dem Ergebnis, dass die Anreicherung von Trinkwasser mit Fluorid eine effektive und sichere Maßnahme zur Kariesprävention ist. Ob Trinkwasser in bestimmten Regionen mit Fluorid angereichert werden sollte, ist immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen.
Auch Lösungsmittel stehen im Verdacht, die kindliche Hirnentwicklung zu schädigen. Eine französische Kohortenstudie an 3.000 Kindern zeigte, dass Kinder von Müttern, die Lösungsmitteln wie Tetrachlorethylen ausgesetzt waren, zu aggressivem Verhalten, Hyperaktivität und psychischen Erkrankungen neigen. Jede fünfte Mutter dieser Kohortenstudie gab an, beruflich regelmäßig mit Lösungsmitteln in Kontakt zu kommen. Die Frauen waren Krankenschwestern oder andere Angestellte in Krankenhäusern, Reinigungskräfte, Apothekerinnen, Friseurinnen oder Kosmetikerinnen. Ob die psychischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten aber auf andere Ursachen zurückzuführen sein könnten, konnte mit den Daten der Kohortenstudie nicht abschließend geklärt werden.
Auch Pestizide wie DDT scheinen die Hirnentwicklung von Kindern zu beeinflussen. Studien deuten darauf hin, dass der Kontakt zu Organophosphat-Pestiziden im Mutterleib zu einem verringerten Kopfumfang der Kinder und zu Defiziten in der mentalen und sozialen Entwicklung der Kinder bis ins Schulalter führen kann. Das Insektizid darf zwar wegen seiner bekannten Nebenwirkungen auf Mensch und Tier seit Inkrafttreten der Stockholmer Konvention im Jahr 2004 nur noch zur Bekämpfung von krankheitsübertragenden Insekten, insbesondere den Überträgern der Malaria eingesetzt werden, daran halten sich aber nicht alle Staaten.
Kinder, die unter Konzentrationsstörungen, einer verzögerten Entwicklung und schlechten Schulnoten ohne erkennbaren Grund leiden, bereiten den Forschern die meisten Sorgen. Denn ihre Zahl steige stetig. Für sie liegen die Gründe auf der Hand: „Das Gehirn dieser Kinder wurde durch neurotoxische Chemikalien geschädigt. Die Folgen sind offenkundig, aber eine formelle Diagnose haben diese Kinder nie erhalten“, schreiben sie. Doch sind das wirklich die alleinigen Gründe für die Schulprobleme der Kinder? Welchen Einfluss der Leistungsdruck in einer immer schnelllebigeren Gesellschaft auf die Lernfähigkeit der Kinder möglicherweise haben könnte, wurde in den Metastudie nicht berücksichtigt. Bisher seien 214 Substanzen mit neurotoxischer Wirkung bekannt – die lange Liste werde jedes Jahr um etwa zwei neue Substanzen erweitert. Mindestens die Hälfte davon werde in großem Maßstab industriell produziert und gelange früher oder später in die Umwelt. Die Hirnschädigungen im Mutterleib oder während der frühen Kindheit sind bisher nicht therapierbar und führen zu lebenslangen Einschränkungen der Betroffenen, ihrer Familien und der Gesellschaft. „Weltweit kommen Kinder mit Giftstoffen in Berührung, die unbemerkt ihre intellektuellen Fähigkeiten mindern, ihr Verhalten verändern und so ihre Zukunft zerstören. Das bereitet uns große Sorgen“, schreiben Grandjean und Landrigan.
Abhilfe könnten nach Meinung der Studienautoren nur strengere Zulassungsbestimmungen und Umweltrichtlinien schaffen. Die Wissenschaftler fordern umfangreichere Testkriterien, die neben der akuten neurotoxischen Wirkung einer Substanz auch die schleichende und pränatale Wirkung erfassen. Das sei bisher nicht der Fall und sollte auch für bereits zugelassene Chemikalien angewandt werden. Chemikalien solange als ungefährlich einzustufen, bis das Gegenteil bewiesen wurde, sei ein fataler Trugschluss, warnen die Forscher. Zum Schutz der Kinder und der Gesellschaft müsse ein Umdenken stattfinden, das in ein entschlossenes Handeln mündet. Doch bevor die kausalen Zusammenhänge von neurodegenerativen Störungen bei Kindern und Umweltchemikalien nicht zweifelsfrei geklärt sind, wird ein Umdenken nur schwer durchsetzbar sein.