Unheilbar krank, doch die Forschung hat innovative Wirkstoffe in ihrer Pipeline? Vielen Patienten fehlt schlichtweg Zeit, auf deren Zulassung nach geltendem Recht zu warten. In den Niederlanden werden sie ab sofort vom Unternehmen myTomorrows unterstützt. Dessen Geschäftsführung hat auch Deutschland im Visier.
Eline leidet an einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium und klammert sich an jeden Strohhalm. Ein forschendes Pharmaunternehmen hat tatsächlich Wirkstoffe in der Pipeline. Allerdings muss deren Effekt noch in großen Studien untersucht werden, inklusive möglicher Nebenwirkungen. Von erfolgreichen Experimenten im Labor bis zur Zulassung vergehen laut Zahlen des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa) mehr als 13 Jahre. Diese Zeit hat Eline aber nicht mehr – eine ausweglose Situation? In den Niederlanden kann sich die Patientin an myTomorrows wenden. Als Makler vermittelt die Firma Arzneistoffe, welche bereits einige Tests durchlaufen haben, aber noch nicht auf dem Markt erhältlich sind. https://www.youtube.com/watch?v=bFm0K-TtmkY
Das Geschäftsmodell dahinter: An nicht zugelassenen Arzneimitteln verdient myTomorrows laut eigenen Angaben nichts. Patienten müssen aber trotzdem in die Tasche greifen und Hersteller für ihre Herstellungskosten entlohnen. Die Rede ist von „mehreren tausend Euro pro Jahr“, genaue Werte bleiben im Dunkeln. Auch haben Patienten selbst zu klären, inwieweit sich ihre Versicherung beteiligt. Bei Erkrankungen mit hinreichendem Schweregrad und mit realistischer Option auf Heilung beziehungsweise Linderung, aber ohne Alternativen im GKV-Leistungskatalog, greift der „Nikolaus-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts. Unter diesen Umständen müssen Leistungsträger in ihre Tasche greifen. Doch zurück zu myTomorrows: Für das Unternehmen wird es erst interessant, sollte die Zulassung für ein Medikament erteilt werden. Dann fließen Gelder („a small royalty“) als Umsatzbeteiligung vom Unternehmen an den Vermittler – Zahlen werden auch hier nicht genannt. Angesichts dieser nebulösen Marketingstrategie sorgt myTomorrows in den Niederlanden für Gesprächsstoff. Es geht um die Frage, ob sich ein Arzneimittelmakler am Leiden unheilbar Kranker bereichern darf. Hollands Gesundheitsministerin Edith Schippers sieht die Sache aber von beiden Seiten. Sie kritisiert, durch europäische Regularien dauere es immer länger, bis ein Arzneistoff zugelassen werde.
Genau dort setzt myTomorrows an – mit einem Team, das langjährige Kontakte in der Branche hat. Aufsichtsratschef Ronald Brus leitete beispielsweise Crucell, bevor er zusammen mit Sjaak Vink und anderen Kollegen myTomorrows gründete. Brus war es gelungen, seinem an Lungenkrebs erkrankten Vater dank innovativer Arzneistoffe mehr Lebenszeit zu schenken. Kürzlich nahm das mittlerweile 30-köpfige Team auch einen neuen Wirkstoff in das Firmenportfolio auf. Die Substanz hat sich in skandinavischen Ländern bei Kopf-Hals-Karzinomen bewährt. Weitere Schwerpunkte sind atypische, schwere oder refraktäre Depressionen. Hier kommt ein transdermales Pflaster zum Einsatz, das kontinuierlich geringe Mengen eines MAO-Hemmers abgibt. Bei mehreren Krebserkrankungen erwähnt die Website Radiosensitizer, also Pharmaka, die Tumorzellen empfindlicher gegenüber ionisierender Strahlung machen. Insgesamt hat der Arzneimittelmakler vermutlich fünf noch nicht zugelassene Wirkstoffe parat, weitere zehn sollen bis Ende 2014 folgen. Vor deren Einsatz müssen sowohl der Arzt als auch der Patient einer Fast-Track-Behandlung zustimmen. Nach dem Einverständnis niederländischer Aufsichtsbehörden und nach Bezahlung erhält eine Apotheke vor Ort die Präparate. Mediziner übertragen Daten während jeder Behandlung an myTomorrows. Mittlerweile setzt der Arzneimittelmakler zum Sprung nach Deutschland an, sobald das rechtliche Terrain ausgelotet wurde.
Zum Hintergrund: In Deutschland ist das Thema an sich nicht völlig neu. Bei der Off-Label-Use verschreiben Ärzte ein Präparat außerhalb zugelassener Indikationen oder Patientengruppen. Das geschieht recht häufig in der Onkologie, aber auch in der Pädiatrie. Ihnen drohen dabei haftungsrechtliche Folgen. Bei pharmazeutischen Herstellern greift § 84 des Arzneimittelgesetzes (AMG). Sie haften, falls „das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen“. Unter einem „bestimmungsgemäßen Gebrauch“ fallen Anwendungen außerhalb des Zulassungsbereichs, falls das Unternehmen davon wusste und keine Maßnahmen zur Risikominimierung ergriffen hat.
Im Gegensatz zur Off-Label-Use greifen Ärzte bei der Compassionate Use (compassion: Mitleid, Mitgefühl) auf nicht zugelassene Pharmaka zurück. Diese müssen sich entweder in der klinischen Prüfung oder bereits im Zulassungsverfahren befinden. Hat ein Mediziner beispielsweise über Fachveröffentlichungen erfahren, dass ein neuer Arzneistoff getestet wird, kann er sich auf seinen therapeutischen Notstand berufen und Hersteller kontaktieren. Im AMG, § 21, Absatz 2, heißt es: „Einer Zulassung bedarf es nicht für Arzneimittel, die […] kostenlos für eine Anwendung bei Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer zu einer schweren Behinderung führenden Erkrankung leiden oder deren Krankheit lebensbedrohend ist, und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufrieden stellend behandelt werden können […].“ Hier zu Lande veröffentlicht das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) regelmäßig eine Liste mit Härtefallprogrammen gemäß Arzneimittel-Härtefall-Verordnung (AMHV). Die Wirkstoffe kommen größtenteils bei Tumorerkrankungen oder Tuberkulose zum Einsatz. Momentan umfasst die Zusammenstellung aber nur elf Wirkstoffe. Grund genug für Sjaak Vink, binnen sechs Monaten in Deutschland Fuß zu fassen, falls es ihm gelingt, gesetzliche Hürden zu überwinden.