Spargel, Kaffee, und auch Schweinefleisch steigern den Harnsäurewert und somit das Risiko für Gicht – das dachte man zumindest früher. 40 Jahre lang galt Gicht als „Wohlstandskrankheit“. Neue Erkenntnisse lassen die symptomatische Hyperurikämie ganz anders dastehen.
Aus Xanthin wird Purin und daraus dann Harnsäure, so steht es in vielen Lehrbüchern – doch das ist didaktisch zu stark reduziert. Nicht aus jedem Xanthin entsteht ein Purin und nicht aus jedem Purin entsteht Harnsäure. 1,3,7-Trimethylxanthin ist Koffein. Daraus wird kein Purin gebildet, sondern es wird zu Di- und Monomethylxanthin abgebaut. Das Ziel der EPIC-Oxford Kohorte war es, Evidenz in den Mythos zu bringen. Gibt es Unterschiede hinsichtlich der Serumkonzentrationen von Harnsäure bei Omnivoren, Vegetariern und Veganern? Bei 670 Männern und 1.023 Frauen wurden die Serumharnsäurekonzentrationen bestimmt. 424 Teilnehmer waren nach Selbstauskunft Fleischesser, 425 waren Fischesser und ernährten sich fleischfrei. 422 waren Vegetarier und 422 Veganer. Die mittleren Harnsäurekonzentrationen der unterschiedlichen Ernährungsstil-Gruppen wurden für Alter, Body Mass Index, Calciumzufuhr und Alkoholkonsum adjustiert. Die Gruppe der Fleischesser hatte den höchsten BMI, gefolgt von der Gruppe der Vegetarier, der Fischesser und der Veganer. Es fand sich eine signifikante positive Korrelation zwischen Harnsäurekonzentration und BMI sowie eine inverse Korrelation mit dem Verzehr von Milchprodukten. Bei den Männern fand sich eine signifikante positive Korrelation zwischen Harnsäurewerten und dem Verzehr von Bier, Alkohol und Sojaprotein. Das Ergebnis ist erstaunlich: Die adjustierten Serumharnsäurekonzentrationen betrugen bei männlichen Fleischessern 315, bei Fischessern 309, bei Vegetariern 303 und bei Veganern 340 μmol/l. Auch bei den weiblichen Probanden hatten die Veganerinnen mit 241 μmol/l die höchsten Serumharnsäurekonzentrationen. Die entsprechenden Werte für die Fischesser betrugen 227, Fleischesser 237 und Vegetarier 230 μmol/l.
Veganer wiesen in dieser Kohorte die höchsten Harnsäurekonzentrationen unter den vier betrachteten Ernährungsstil-Gruppen auf. Als mögliche Erklärung bieten die Autoren frühere Untersuchungen an, die gezeigt hatten, dass der Verzehr von Milch und Calcium mit niedrigen Harnsäurekonzentrationen einhergeht. Hyperurikämie und Gicht entstehen zwar durch zu viel Harnsäure im Serum, aber genetische Faktoren und eine verminderte renale Ausscheidung endogener Harnsäure ist weitaus bedeutsamer als die Zufuhr exogener Purine oder Harnsäure. Dennoch kann natürlich die Ernährung die Entstehung der Erkrankung beeinflussen. Mit steigendem BMI steigt das Risiko für Gicht. Also sind nicht Purine in Nahrungsmitteln die Übeltäter sondern deren Kalorien.
Wissenschaftler der Institute für Epidemiologie und Humangenetik des Helmholtz Zentrums München, sowie der Universitäten Innsbruck und Greifswald haben ein Gen entdeckt, das an der Regulation des Harnsäurespiegels entscheidend beteiligt ist. Die Forschergruppe um Angela Döring, Dr. Christian Gieger und Dr. Christa Meisinger untersuchte die Verbindung zwischen Genvarianten und Harnsäurespiegel bei Probanden. 1.644 Probanden wurden in die Studie einbezogen. Der Übeltäter ist das Gen SLC2A9. Die Genprodukte gehören aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeiten zur Familie der Glukosetransporter und transportieren Fruktose durch die Zellmembran. Personen, die Träger der selteneren Varianten sind, weisen niedrigere Harnsäurespiegel auf. Der Effekt ist bei Frauen deutlich ausgeprägter ist als bei Männern. Wie viele andere Gene liegt SLC2A9 in verschiedenen Modifikationen vor und eine Variante scheint nach den Ergebnissen der Gruppe um Alan Wright von der Universität Edinburgh weniger gut in der Lage zu sein, Harnsäure renal zu eliminieren. Ein Gentest könnte zukünftig helfen, das Risiko individuell besser vorherzusagen. Die Entdeckung des Harnsäuretransporters könnte auch ein Ansatz für die Entwicklung neuer Medikamente sein.
In einer Mitteilung an die American Medical Association schrieb Dr. Davis im Jahr 1897: „Der hohe arterielle Druck bei Gicht wird teilweise von Harnsäure oder anderen toxischen Substanzen im Blut verursacht, die den Tonus der renalen Arteriolen erhöhen.“ Diese visionäre Meinung hat sich heute als richtig erwiesen. Gicht-Patienten haben zu über 50 Prozent ebenfalls eine Hypertonie und zu 40 Prozent ein metabolisches Syndrom oder Diabetes mellitus. Insgesamt haben Gicht-Patienten ein um etwa 25 Prozent höheres Mortalitätsrisiko als Menschen ohne erhöhte Harnsäurewert, so Lottmann et al. in ihrer Metaanalyse. Harnsäure aktiviert das Inflammasom und damit viele entzündliche Prozesse. Außerdem sinkt unter einem erhöhten Harnsäurewert NO ab. Gicht ist also in der Lage, die Gefäße direkt zu schädigen. Demnach müsste sich ja eine harnsäuresenkende Therapie positiv auf den Gefäßstatus und das kardiovaskuläre Risiko auswirken.
Die Studie von Feig et al. zeigte: Bei jugendlichen Hypertonikern wirkte sich eine vierwöchige Behandlung mit dem klassischen Harnsäuresenker Allopurinol als blutdruckmindernd aus. In der Verumgruppe sank der Blutdruck im Vergleich zu Placebo um 5 mm/Hg. Norman et al. wiesen nach, dass eine Harnsäuresenkung auch für Patienten mit Angina Pectoris sinnvoll ist. Diese wurden über sechs Wochen mit Allopurinol behandelt und konnten ihre Leistungsfähigkeit – gemessen im Belastungs-EKG – um 50 Prozent steigern. 141 kardiochirurgische Patienten mit Hyperurikämie wurden randomisiert über sechs Monate entweder mit Febuxostat oder Allopurinol behandelt. Sezai et al. berichtete in einer Studie über einen signifikanten Abfall der Marker für oxidativen Stress (ox-LDL), Inflammation (CRP) und der Gefäßsteifigkeit (gemessen mit der Pulswellengeschwindigkeit). Die Dermatologin Dr. Anne-Kathrin Tausche der Uniklinik Dresden untersuchte in einer Studie herzgesunde Patienten mit Gicht. Die Patienten bekamen entweder Allopurinol 460 mg oder Febuxostat 90 mg über 12 Monate. Gemessen wurden die Marker für oxidativen Stress und Entzündung sowie die Gefäßsteifigkeit. In beiden Gruppen wurde die Harnsäure zuverlässig und stabil gesenkt und die Tophusgröße nahm um 60 Prozent ab. Die Entzündungsmarker nahmen unter Febuxostat signifikant stärker ab als unter Allopurinol. Des Weiteren war auch die Gefäßsteifigkeit unter Febuxostat stabil, unter Allopurinol nahm sie sogar zu. Früher wurde angenommen, dass die Schmerzen beim Gichtanfall durch die physikalische Reizung der Uratkristalle hervorgerufen wird. Auch für die Gichtniere wurde dieses „Uratgeröll“ verantwortlich gemacht. Die Ursachen für eine Nierenschädigung sind jedoch nicht die Kristalle, sondern dadurch ausgelöste Entzündungsprozesse. Diese führen zur interstitiellen Fibrose, zum Untergang von Nephronen und zu Läsionen an den Arteriolen.
Lange wurde spekuliert, dass Männer häufiger an Gicht erkranken, weil sie sich ungesünder ernähren. Auch dieser Mythos scheint zu kippen. Frauen vor der Menopause besitzen durch Estrogene einen natürlichen Gichtschutz. Es fördert die renale Harnsäureausscheidung. In den Wechseljahren sinkt die Estrogenmenge ab und damit der protektive Faktor von Gicht.
Die S-1Leitlinie „akute Gicht in der Hausärztlichen Versorgung“ der DEGAM gibt Empfehlungen zur Akuttherapie beim Gichtanfall:
Die Empfehlungen, Dosierungen und die Einteilung nach Mitteln erster und zweiter Wahl ist durchdacht und orientiert sich an der aktuellen internationalen Lehrmeinung. Positiv ist, dass Colchicin endlich in erheblich geringerer Dosis als in der gängigen Literatur angegeben wird. Die ROTE LISTE® und zahlreiche Fachinformationen geben Dosierungen bis hin zur toxischen Grenze an. Warum explizit Omeprazol als PPI empfohlen wird, ist nicht schlüssig. Verglichen mit anderen Protonenpumpenhemmern ist das Risiko für Interaktionen größer. Umso unverständlicher, warum die gleichzeitig erschienene S-1-Leitlinie „Häufige Gichtanfälle und chronische Gicht in der Hausärztlichen Versorgung“ derselben Fachgesellschaft so unausgegoren ist. Mittel der 1. Wahl ist Allopurinol. Bei Unverträglichkeit oder ungenügender Wirksamkeit wird nicht etwa Febuxostat empfohlen, sondern 500 mg Ascorbinsäure. Erst bei Unverträglichkeit, nicht etwa bei ungenügender Wirkung, wird Febuxostat genannt. Ob pharmaökonomische Aspekte diesen Ratschlag mitgeprägt haben? Die internationalen Leitlinien des ACR (American College of Rheumatology) zum Management der Gicht unterscheiden sich von der S-1-Leitlinie. Auch die EULAR-Empfehlungen aus dem Jahr 2006 tun dies.
Die DEGAM empfiehlt zur Therapie Vitamin C als Alternative. Als Quelle hierfür ist eine Studie von Choi et al. aus dem Jahre 2009 genannt. Diese belegt, dass sehr hoch dosiertes Vitamin C das relative Risiko für Gicht bei Männern um bis zu 45 Prozent senken kann. Die beste Prävention lieferte eine Dosis von mindestens 1.500 mg des Vitamins. Die Arbeitsgruppe kam zu dem Schluss, dass „eine Erhöhung der Zufuhr an Vitamin C bei der Prävention von Gicht helfen [...] kann. 500 mg senken bei Männern das Risiko, an Gicht zu erkranken, um 17 Prozent“. Bewiesen ist es also nur für Männer. Das Ergebnis sagt aus, dass das Risiko, Gicht zu bekommen gesenkt wird, nicht, dass Ascorbinsäure in der Lage ist, eine bestehende Erkrankung günstig zu beeinflussen.
Ein weiterer Kritikpunkt an der DEGAM-Leitlinie ist der Harnsäurezielwert von 6,5 mg/dl. Im Gegensatz zu vielen anderen Werten in der Medizin ist der Harnsäurewert nicht empirisch gewählt, sondern physikalisch festgelegt. Ein Gichtpatient muss einen Wert von unter 6,0 mg/dl haben, einer mit ausgeprägten Tophi sogar von 5,0 mg/dl. Bei einem Wert von 6,5 kann Natriumurat als Kristall ausfallen und sich ablagern. Bei vielen Laboren herrscht ebenfalls ein Wertechaos. Es wird differenziert zwischen Alter und Geschlecht und werte von bis zu 8 mg/dl werden noch als normgerecht angesehen. Hier muss eine Differenzierung zwischen Gichtpatienten und solchen ohne Gicht erfolgen. Ein Patient ohne Gicht kann sich höhere Werte erlauben, ein Gichtpatient muss konsequent so behandelt werden, dass der Wert mindestens unter 6,0 mg/dl gesenkt wird, und das lebenslang. Bei unzureichender Wirksamkeit, Kontraindikation oder Unverträglichkeit von NSAR und Colchicin, oder wenn eine wiederholte Therapie mit Kortikosteroiden nicht sinnvoll erscheint, steht seit kurzem mit Canakinumab s.c. erstmals eine Substanz für therapieresistente Gichtpatienten zur Verfügung. Eine Ampulle kostet so viel wie ein gut ausgestatter Kleinwagen.
Zur Harnsäuresenkung wird neben Allopurinol Febuxostat zur First-line-Therapie empfohlen, so die ACR-Leitlinien. Febuxostat ist hochpreisiger als die Standardmedikation. Zielgruppe sind Patienten mit Hautunverträglichkeiten, Interaktionen mit Kumarinen und ACE-Hemmern sowie Patienten mit Niereninsuffizienz. Die Leitlinie rät bei einer Therapie mit Allopurinol zu einer Vorsichtsmaßnahme: Vor dem Therapiebeginn mit Allopurinol sollte erwogen werden, ob ein Screening auf HLA-B*5801 mittels Polymerasekettenreaktion als Teil des Risikomanagements in den Subpopulationen durchgeführt wird, in denen sowohl vermehrt HLA-B*5801 Allele vorhanden sind, als auch die HLA-B*5801 positiven Personen ein stark erhöhtes Hazard Ratio (relatives Risiko) haben, eine schwere Allopurinol-Hypersensitivität zu entwickeln. In der Praxis wird sich dies sicherlich nicht durchsetzen. „Menschen mit Gicht, die ein hohes Alter haben, Gichtknoten in ihren Gelenken haben, die ein hartes Leben geführt haben und deren Gedärme verstopft sind, können mit der Kraft der Medizin nicht geheilt werden.“ Das sagte einst Hippokrates – aus heutiger Sicht ist Gicht gut behandelbar. Bis eine kurative Gentherapie allerdings möglich ist, wird wohl noch etwas Zeit vergehen.