Kaum ein anderes Hormon hat im letzten Jahrzehnt mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen als Oxytocin. Nach ersten vielversprechenden Ergebnissen in der Behandlung von Autismus, gilt das „Liebeshormon“ auch als Kandidat für die Heilung von Anorexie.
Schaut man auf die neuropsychologischen Profile von Anorexie und Autismus, fallen einige Gemeinsamkeiten auf. Beide Patientengruppen zeigen rigides Zwangsverhalten, sie leiden unter Angstgefühlen, sozialen Defiziten und oft auch einer totalen sozialen Isolation. Sie sind schlecht darin, die Gefühle anderer einzuschätzen, neigen zu Perfektionismus, exzessiver Detailverliebtheit und sind sehr sensibel. Es gibt Hinweise darauf, dass mehr als 20 Prozent aller Magersüchtigen auch an Autismus leiden, und einige Wissenschaftler gehen sogar so weit zu sagen, dass Anorexie eine Form des Autismus sei. Studien zeigen bereits, dass Autisten nach der Einnahme von Oxytocin weniger Zwangshandlungen ausführen, Emotionen besser erkennen und gegenüber fremden Personen schneller Vertrauen aufbauen. Ist das Hormon vielleicht auch zur Behandlung von Anorexie geeignet? Während Forscher bisher mehrheitlich der Meinung waren, dass die veränderten Oxytocin-Level bei Anorexie-Patienten eher Folge anstatt Ursache der Krankheit sind, gibt es erste Pilotstudien, die das Gegenteil behaupten. Wissenschaftler vom King’s College London fanden vor kurzem heraus, dass Anorexie-Patienten nach der Einnahme von Oxytocin weniger stark auf Bilder von kalorienreichem Essen oder dicken Menschen fixiert sind. Insgesamt nahmen 31 Patienten und 33 gesunde Probanden an den Versuchen teil.
Ihnen wurden zunächst Bilder von kalorienarmen oder kalorienreichen Nahrungsmitteln, dünnen und dicken Körperformen sowie Waagen mit unterschiedlicher Gewichtsanzeige gezeigt. Die Teilnehmer mussten diese Bilder möglichst schnell und akkurat erkennen. Dann erhielten sie in Form eines Nasensprays entweder Oxytocin oder ein Placebo und wiederholten den Test. Während die Anorexie-Patienten im ersten Versuchsdurchlauf schneller auf für sie negativ besetzte Bilder (fettiges Essen, dicke Körperteile) reagierten, schwächte Oxytocin diesen Effekt im zweiten Versuchsdurchlauf ab. In einem anderen Experiment wurden den gleichen Teilnehmern Bilder von fröhlichen, wütenden oder angeekelten Gesichtern gezeigt. Auch hier führte die Gabe von Oxytocin dazu, dass die Anorexie-Patienten weniger stark auf die negativen Emotionen reagierten. „Unsere Forschung zeigt, dass die unbewusste Tendenz der Patienten, sich auf Nahrungsmittel, Körperformen und negative Emotionen zu fokussieren, durch Oxytocin reduziert wird“, sagt Professor Youl-Ri Kim von der Inje Universität in Seoul, Hauptautorin beider Studien. „Wir befinden uns in einer frühen Forschungsphase mit einer kleinen Anzahl von Probanden, aber es ist sehr aufregend, das mögliche Potential dieser Behandlung zu sehen“, ergänzt Professor Janet Treasure vom King’s College London, die ebenfalls an den Experimenten beteiligt war.
Treasure ist nicht nur an der Wirkung des Oxytocins, sondern auch an den molekularbiologischen Ursachen dafür interessiert. Deshalb untersuchte sie das Gen OXTR, das für den Oxytocin-Rezeptor kodiert. Bei Anorexie-Patienten war dieses Gen wesentlich häufiger methyliert, was in der Sprache der Genetiker so viel wie „abgeschaltet“ bedeutet. Bisher ist aber nicht klar, ob diese epigenetische Misregulation des OXTR-Gens durch Umwelteinflüsse hervorgerufen wird oder eine Folge der Anorexie ist. Die Forscher aus Großbritannien und Korea sind nicht die Einzigen, die den Zusammenhang zwischen Anorexie und Oxytocin untersuchen. Bisher kranken die wenigen verfügbaren Studien jedoch alle an der extrem kleinen Probandenzahl, die keine generalisierbaren Aussagen zulässt. „Oxytocin verfügt über ein großes Potential in der Behandlung psychischer Erkrankungen“, schreiben australische Forscher in einem Übersichtsartikel. „Alle sechs bisher publizierten Studien weisen darauf hin, dass das Oxytocin-System bei Anorexie-Patienten durcheinander gerät.“ Aber die bisherigen Ergebnisse sind noch mit Vorsicht zu interpretieren, denn um wirklich zu Beweisen, dass Oxytocin als Medikament für Magersüchtige in Frage käme, müssten die bisherigen Studien zunächst mit einer größeren Teilnehmerzahl wiederholt werden. Ließen sich die Ergebnisse reproduzieren, wäre das der nächste Schritt auf dem langen Weg zur klinischen Anwendung.