Langzeitsedierung gehört inzwischen zur Intensivstations-Routine bei Schädel-Hirn-Verletzungen. Neue Studien haben gezeigt, dass die induzierte Bewusstlosigkeit nicht allzu tief sein sollte.
Wird Michael Schumacher wieder aufwachen, und in welchem Zustand wird er sich befinden? Kann das „Künstliche Koma“ fließend in ein Wachkoma übergehen? Wie gefährlich ist die Dauersedierung für den Patienten? Mit dem Unfall des prominenten Rennfahrers stieg urplötzlich das Interesse an der Kunst der Anästhesisten, ganz besonders bei Schädel-Hirn-Traumen.
Der Patient, der mit schweren Kopfverletzungen auf die Intensivstation kommt, hat in vielen Fällen Schmerzen, ist aber oft nicht in der Lage, den Ärzten Genaueres darüber zu sagen. Verletzungen im Gehirn, wie etwa ein intracraniales Hämatom, steigender Druck im Schädel und verminderte Durchblutung des Gehirns erfordern sofortiges Handeln vom medizinischen Personal. Schließlich kommen dazu Angst und Aufregung des Betroffenen durch die meist lebensbedrohlichen Verletzungsfolgen. Um den Intensivmedizinern die Chance zu geben, den Patienten ohne unerwünschte Aktionen zu versorgen, sind neben Schmerzmitteln Sedativa das Mittel der Wahl. Eine „Langzeitsedierung erlaubt es, den Intensivpatienten in dieser kritischen Phase zu behandeln, sie senkt mögliche Risiken für bleibende Schäden und fördert die Heilung“, so die Deutsche Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin.
Wie lassen sich jedoch gleichzeitig die verschiedenen Anforderungen von Schmerzfreiheit, dem Herunterfahren des Gehirnstoffwechsels und möglicherweise noch die Verhinderung von Krampfanfällen erfüllen? Seit 2010 gibt es eine erneuerte „S3-Leitlinie zur Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin“. Aber noch nicht überall, so berichten Stephan Braune und Stefan Kluge vom Uniklinikum Hamburg Eppendorf in einem Beitrag zur Deutschen Medizinischen Wochenschrift im Jahr 2012, würden diese Empfehlungen umgesetzt. Schon seit einer Studie aus dem Jahr 2000 liegen Erkenntnisse vor, dass eine möglichst flache Sedierung die Aussichten für den Patienten deutlich verbessert. Eine größere Untersuchung aus dem Jahr 2008 bewies eindeutig, dass ein tiefer künstlicher Schlaf eng mit der Dauer der Beatmung und der Sterblichkeit in der Klinik innerhalb des nächsten halben Jahres zusammenhängt. Auf der anderen Seite stehen jedoch mögliche psychische traumatische Belastungen und der Stress, wenn der Patient die zahlreichen Geräusche, Gespräche und den hohen technischen Aufwand einschließlich seiner Beatmungsapparatur wahrnimmt. Unterbrechungen des „künstlichen Komas“, wie sie in Studien empfohlen werden, sind für den Routinebetrieb einer Intensivstation sehr aufwändig. Wie kanadische Wissenschaftler 2012 zeigten, bringen solche Protokolle nicht immer einen entscheidenden Überlebensvorteil, aber auf alle Fälle eine hohe Belastung für das Pflegepersonal.
Ein Mittelweg zwischen Stressreduktion und tiefem Schlummer des Patienten setzt voraus, dass das Team von der Intensivstation regelmäßig überwacht, wie tief die Sedierung gerade ist. Am gebräuchlichsten dafür ist die Richmond-Agitation-Sedation-Scale (RASS). Die zehnstufige RASS-Gradierung unterscheidet zwischen der „offenen Streitlust“ mit Gewaltbereitschaft über den ängstlich-ruhigen Patienten bis hin zu einem Zustand, in dem der Patient weder durch Stimmen noch durch körperliche Reize erweckbar ist. Alle acht Stunden, so die neuen Empfehlungen, sollte das Personal den Zustand überprüfen, denn je nach Wirkstoff und Art der Verabreichung kann es zu einer Überdosierung kommen, die leicht zu übersehen ist.
Bei kontinuierlicher Gabe kommt es vor, dass sich Substanzen mit nicht ganz so kurzer Halbwertszeit akkumulieren und damit für mehr Wirkung als gewollt sorgen. Aber auch bei Bolusgaben – etwa von Opioiden – ist es wichtig, kontinuierlich den Blutdruck zu überwachen. Denn Fentanyl, aber auch Sufentanil oder Remifentanil sind mit einem Hypotonie-Risiko verbunden. Autoregulatorische Mechanismen sorgen im Gehirn dann für gefährlichen Überdruck bei verringerter Durchblutung. Der Trend hin zur flachen Sedierung begünstigt Substanzen mit kurzer Halbwertszeit. Aber Vorsicht: Auch bei Infusionen über Stunden oder gar Tage hinweg verlängert sich die Aufenthaltsdauer vieler Substanzen im Körper. Dabei steigt etwa die „Lebensdauer“ von Propofol nur mäßig an, dagegen die von Midazolam oder ganz besonders Diazepam sehr stark.
Die früher sehr beliebten Barbiturate dienen heute meist nur als Wirkstoff bei der Einleitung der Narkose. Aufgrund ihrer hohen Fettlöslichkeit durchqueren sie schnell die Blut-Hirn-Schranke, senken jedoch den Blutdruck. Ein Cochrane Review rät von ihrem Gebrauch als Mittel für eine Langzeitsedierung ab. Benzodiazepine haben den Vorteil, anxiolytisch, antikonvulsiv und sedativ zu wirken. Wegen der kurzen Halbwertszeit einiger Wirkstoffe gehören sie zu den meist eingesetzten Mitteln. Allerdings unterdrücken sie die Atmung und verhindern den Hustenreflex. Außerdem entwickeln einige Patienten nach längerem Einsatz von Benzodiazepinen eine Toleranz gegen diese Stoffe. Der Wirkmechanismus von Propofol ist immer noch nicht restlos geklärt. Das Mittel gehört jedoch aufgrund seines Wirkungsspektrums und vergleichsweise harmlosen Nebenwirkungen zur Standardsedierung bei Schädel-Hirn-Traumen. Allerdings wirkt Propofol nicht analgetisch. Falls notwendig, mischt der Arzt häufig ein Opioid dazu, um empfindlichen Patienten den Schmerz zu nehmen. Ein weiteres beliebtes Sedativum ist Dexmedetomidin. Mit dessen Bindung an α-Adrenozeptoren vermindert es die Freisetzung des Neurotransmitters Noradrenalin. Sein Vorteil: Auch nach dem Ende der Beatmung ist Dexmedetomidin gut einsetzbar, weil es die Atmung anders als etliche andere Sedativa nicht unterdrückt.
Anders als die meisten anderen Sedativa wirkt Ketamin: Im EEG von mit Ketamin behandelten Patienten zeigt sich eine ungewöhnlich lebhafte Aktivität. Die narkotische Wirkung rührt aber wahrscheinlich daher, dass diese Gehirntätigkeit eher unkoordiniert und fehlerhaft ist. Gerade bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma und erhöhtem Innendruck eignet sich Ketamin gut, weil es kaum Einfluss auf den Blutdruck hat. Negativer Punkt: Psychotrope Wirkungen mit Halluzinationen, zuweilen auch Übelkeit oder Unruhe. In Kombination mit anderen Anästhetika lassen sich aber auch diese Effekte kontrollieren.
Bei längeren Sedierungen sind Lungenentzündungen nicht selten. Sie entstehen, wenn etwa Mikroben aus der Mundhöhle beim Schlucken in die Luftröhre gelangen und eine Etage tiefer dann das Atemorgan infizieren. Auch die Eigenschaft vieler Sedativa, den Blutdruck zu senken und damit auch die Durchblutung des Gehirns zu vermindern, zählt zu den großen Gefahren eines „künstlichen Komas“.
Benzodiazepine, aber auch Opiate und Propofol sind mir einem erhöhten Risiko für ein Delirium des Patienten verbunden. Ein Zustand, in dem der Kranke nicht nur völlig unaufmerksam im Bett liegt und zuweilen unzusammenhängende Worte redet, sondern auch mit unkontrollierten Bewegungen Katheter oder Drainagen entfernt, ist auf Intensivstationen nicht so selten. Je nach untersuchter Population liegen die Zahlen zwischen 20 und 90 Prozent aller kritisch Kranken. Die Leitlinien empfehlen daher auch die Kontrolle dieser Zustände mit validierten Tests (Confusion Assessment Method for the ICU oder Intensive Care Delirium Screening Checklist). Besonders bei der Mischung vieler verschiedener Wirkstoffe steigt die Delirgefahr. Eindämmen lässt sie sich durch eine möglichst geräusch- und reizarme Umgebung auf der Station und Neuroleptika wie Risperidon oder Haloperidol.
Jedes Jahr landen rund 35.000 Schwerverletzte in Deutschland auf einer Intensivstation. Mehr als die Hälfte davon ist von einem Schädel-Hirn-Trauma betroffen. Ein „induziertes Koma“ schadet dabei dem menschlichen Gehirn nicht, so die Überzeugung der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin. Wenn aus der Sedierung ein ungewolltes Koma wird, liegt das nach Ansicht von John Devlin und seinen Kollegen Gilles Fraser und Richard Riker an zwei Fehlern: Einer Übersedierung oder mangelnder Rücksicht auf Wechselwirkungen und anderen Einflussfaktoren auf die Sedierung. Auch wenn immer noch aussagekräftige Studien für moderne Sedativa fehlen, sollte eine engmaschige Kontrolle des „künstlichen Schlafs“ und seiner Risiken dazu führen, dass die Kunst der Intensivmedizin den Patienten nicht nur lahmlegt, sondern auch wesentlich zu seiner Heilung beträgt.