Was passiert im Gehirn, wenn Menschen nach Objekten greifen? Das war bislang kaum erforscht. Neurowissenschaftler haben jetzt nachgewiesen, wie lange das Gehirn braucht, um eine Präzisionsbewegung zu planen.
Das menschliche Greifen wurde den Wissenschaftlern zufolge meist nur vom Verhalten her untersucht: Wie bewegen Menschen ihre Arme und Finger, um ein Objekt zu fassen? Und wie lange brauchen sie durchschnittlich, um Greifbewegungen auszuführen? Was im Gehirn vorgeht, sei bisher nicht untersucht worden, weil angenommen wurde, dass Muskelaktivitäten in den Händen die Messung der Hirnströme verfälschen. „In unserer Studie haben wir diesen Störfaktor jedoch herausgerechnet“, sagt Dr. Dirk Koester von der Forschungsgruppe Neurokognition und Bewegung – Biomechanik, die am Exzellenzcluster CITEC der Universität Bielefeld beteiligt ist. 20 Personen nahmen an der Studie teil. Sie hatten die Aufgabe, einen Stab zu umfassen, der auf einer drehbaren Scheibe montiert ist, und sollten eines seiner Enden zu einem von acht Zielpunkten am Rand drehen. „Das ist eine offene Greifbewegung, wie wir sie zum Beispiel machen, wenn wir einen Kaffeebecher in die Auto-Becherhalterung stellen“, erklärt Koester. Am Ende einer solchen Bewegung stehe eine Präzisionsanforderung. „Wir umfassen einen Becher, wir bewegen den Arm zur Becherhalterung und dann müssen wir den Becher präzise positionieren, um ihn schließlich loszulassen und in die Halterung gleiten zu lassen“, sagt Koester. Im Experiment war die Präzisionsbewegung das Einstellen des „Zeigers“ auf einen der Zielpunkte. Das Forschungsteam wollte herausfinden, wann die Vorausplanung für die Präzisionsbewegung anfängt und wie lange sie dauert. „Unsere Messungen zeigen, dass die Vorausplanung 600 Millisekunden vor Bewegungsende anfängt – also etwas mehr als eine halbe Sekunde. Unser Gehirn beschäftigt sich dann noch weitere 200 Millisekunden mit der Greifbewegung, nachdem das Ziel erreicht ist. Diese Zeit braucht es, um zu kontrollieren, ob die Bewegung richtig ausgeführt wurde und ob sie noch korrigiert werden muss“, sagt Professor Dr. Thomas Schack, Leiter der Forschungsgruppe Neurokognition und Bewegung – Biomechanik.
Das neue Bielefelder Untersuchungsverfahren könnte laut Schack zum Beispiel für medizinische Untersuchungen von Parkinson-Patienten genutzt werden. „Auf diese Weise lässt sich zum Beispiel vergleichen, ob das jeweilige Gehirn ähnliche Planungszeiten wie ein gesundes Gehirn benötigt, um Objekte präzise zu bewegen“, sagt Schack. Ergebnisse der Studie kommen auch der Robotikforschung am Exzellenzcluster CITEC zugute. „Wenn man eine optimale Kommunikation zwischen Mensch und Roboter anstrebt, können solche Mechanismen des menschlichen Gehirns technisch nachgebildet werden.“ Mit seiner aktuellen Studie belegt das Forschungsteam, wie sehr Greifbewegungen das Arbeitsgedächtnis beanspruchen. Schon in einer vorangegangenen Untersuchung fanden die Wissenschaftler heraus, dass das Umplanen einer Greifbewegung sowohl das räumliche als auch das verbale Arbeitsgedächtnis beansprucht. „Das bedeutet, dass die Planung aktueller Handlungen entsprechende Ressourcen beansprucht und andere kognitive-motorische Vorgänge beeinflusst“, sagt Schack. Das kann lebensgefährliche Folgen haben. „Wer beim Autofahren nach dem Handy sucht oder nach dem Kaffeebecher greift, könnte in kritischen Verkehrssituationen dann Probleme haben, schnell genug zu reagieren und zum Beispiel auszuweichen.“ Originalpublikation: Habitual vs Non-Habitual Manual Actions: An ERP Study on Overt Movement Execution Dirk Koester et al.; PLOS ONE, doi: 10.1371/journal.pone.0093116; 2014