Kohlenhydrate, Fette, Proteine und Vitamine im richtigen Verhältnis? Wer viel darüber nachdenkt, kann sich die Arbeit vielleicht bald sparen. Mit Soylent kommt erstmals ein Nahrungsmittel auf Basis der Selbstoptimierung in den Handel. Hält der Shake, was Entwickler versprechen?
Rob Rhinehart, ein Softwareentwickler aus Kalifornien, kennt das Problem: Ihm bleibt werktags kaum Zeit, um einzukaufen oder gar zu kochen. Nun sind Pizza und Pommes aus ernährungsphysiologischer Sicht nicht gerade der Weisheit letzter Schluss. Deshalb machte sich Rhinehart seine eigenen Gedanken und entwickelte Soylent: ein Pulver, das in kaltes Wasser eingerührt wird. Die milchige, zähflüssige Masse ist aber mehr als nur ein Nahrungsergänzungsmittel. „Menschen können sich ausschließlich davon ernähren“, sagt der Entwickler.
Rhinehart ist weder Arzt noch Apotheker, Biologe oder Chemiker. Er hat viel recherchiert und in Selbstversuchen getestet, bis die ursprüngliche Rezeptur entstand. Im Wesentlichen besteht sein ominöses Pulver aus Kohlenhydraten, meist sind es Maltodextrine, aus Fetten in Form von Olivenöl und aus Proteinen, die alle essentiellen Aminosäuren enthalten. Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente kommen mit hinzu. Genau hier liegt ein Knackpunkt: Rhinehart optimierte Zusätze an Eisen, Calcium und Magnesium so lange, bis er selbst keine Herzrhythmusstörungen und keine brennenden Missempfindungen mehr bemerkte. Auf Gelenkschmerzen reagierte der Entwickler mit Beimengungen von Dimethylsulfon (Methylsulfonylmethan). Damit hält die Selbstoptimierung sogar in Küchen Einzug. Heute ernährt sich der Entwickler nicht komplett, aber zumindest in großen Teilen von Soylent – richtig gekocht wird nur am Wochenende. „Ich hatte mehr Energie, ich schlief besser und konnte mich besser konzentrieren“, so sein Fazit nach ersten Tests. Und die Fangemeinde wuchs.
Schließlich wagte Rhinehart den großen Sprung vom Hinterhoflabor auf den Markt, und zwar mit Unterstützung des Internets: Über Crowdfunding erhielt der Tüftler zwei Millionen US-Dollar – in Form von Vorbestellungen für das graue, unscheinbare Pulver. Ursprünglich lag sein Ziel bei 100.000 US-Dollar. Weitere 1,5 Millionen kamen als Risikokapital von Andreessen Horowitz und von Lerer Ventures, um mit der kommerziellen Produktion zu beginnen. Erste Bestellungen sollen ab dem 17. April verschickt werden. Für eine Portion, sprich eine Mahlzeit, berechnet er 3,10 US-Dollar.
Eigentlich hat der Ansatz nichts bahnbrechend Neues. Astronautennahrung oder parenterale Ernährung gibt es schon seit Jahrzehnten, nur eben nicht für die Normalbevölkerung. Rhinehart sieht gewichtige Argumente für sein Ernährungskonzept, und nicht nur die Zeitersparnis. Mit Soylent könnten Übergewicht und Adipositas der Vergangenheit angehören. Auch bleibt das trockene Pulver stabil, es muss nicht gekühlt werden – ideal für Gegenden mit schlechter Infrastruktur. Und nicht zuletzt sei der Pulver-Shake weitaus sicherer als übliche Nahrungsmittel, sagt Rhinehart. Auch er verwendet natürliche Rohstoffe aus Hafer, Reis, Raps oder Maniokwurzeln. Durch die Verarbeitung lassen sich alle Ingredienzien aber besser kontrollieren und Versorgungslücken schließen. Darauf verweist auch der Produktname: Im Science-Fiction-Film „Soylent Green“ geht es um die exzessive Nutzung natürlicher Ressourcen in Kombination mit Überbevölkerung und Umweltverschmutzung. Schließlich kommt es zu Versorgungsengpässen. Genau hier wollen die Macher von Soylent ansetzen. Momentan haben sie jedoch weitaus banalere Probleme zu lösen, die sie als Feedback von Usern erhalten.
Brian Merchant, Journalist bei der Innovationsplattform Motherboard, scheute sich nicht, Soylent 30 Tage lang im Selbstversuch zu testen und per Videoblog über seine Ergebnisse zu berichten. Er fand den Geschmack zwar „äußerst gewöhnungsbedürftig“, hielt aber durch. Am Ende des Tests hatte Merchant fünf Kilo abgenommen – ein durchaus erwünschter Effekt. Gesundheitliche Folgen blieben aus, aber das Soylent-Team begann, über besser schmeckende Rezepte nachzudenken. Forbes-Journalist Caleb Melby ernährte sich eine Woche lang ausschließlich von Soylent. Er störte sich ebenfalls am Geschmack und rät Selbstoptimierern, mit Kaugummi ihre Kiefermuskulatur zu trainieren. Und Lee Hutchinson von ars technica machte fünf Tage lang die Probe aufs Exempel. „Ich habe nicht aus allen meinen Öffnungen geblutet, habe keinen hyper- oder hypoglykämischen Schock bekommen, und bin auch nicht in Flammen aufgegangen“, beschreibt sie das Ende ihres Experiments. https://www.youtube.com/watch?v=t8NCigh54jg
Kritik kommt von Ärzten und Apothekern. Sie weisen auf fehlende Langzeitstudien beziehungsweise auf unwissenschaftliche Entwicklungsmethoden hin. Nahrungsmittel lassen sich eben nicht auf einzelne Bestandteile reduzieren. Abertausende von Substanzen tragen zur Wirkung bei, und nicht immer haben Wissenschaftler deren Bedeutung restlos verstanden. Hinzu kommt, dass Muskeln und Knochen im Kauapparat ihre Funktion verlieren und sich möglicherweise zurückbilden, sollte Soylent länger als ausschließliche Nahrung dienen. Wie der Gastrointestinaltrakt auf eine jahrzehntelange künstliche Ernährung reagiert, ist ebenfalls unbekannt. Diese Fragen können nur Langzeitstudien klären. Rob Rhinehart ist sich jedoch sicher, letztlich alle Kritiker zu überzeugen.