Kleine Patienten – große Diskrepanzen: Während Zahnärzte auf fluoridhaltige Cremes zur Kariesprophylaxe setzen, bevorzugen Kinderärzte orale Fluoridgaben. Jenseits dieses Streits fordern Zahnärzte, mit Prophylaxe-Leistungen deutlich früher anzusetzen.
Karies ist die häufigste Erkrankung bei Kleinkindern, berichten mehrere Krankenkassen. Im Vergleich zu Karies der permanenten Dentition steigt die Inzidenz bei Milchzähnen ständig an. Häufig sind Sprösslinge von Eltern mit schlechter Ausbildung, niedrigem Sozialstatus oder Migrationshintergrund betroffen. Zwei Prozent aller kleinen Patienten haben statistisch gesehen 52 Prozent der Kariesläsionen. Hier besteht ohne Zweifel großer Handlungsbedarf.
Mit ihrem „Fünf-Punkte-Plan“ gibt die Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ) Laien jetzt ein Maßnahmenpaket zur Prophylaxe an die Hand, das in weiten Teilen auch für Kleinkinder Bedeutung hat. Eltern sollten die Zähne ihrer Sprösslinge zweimal pro Tag putzen und zuckerhaltige Getränke nicht zu häufig geben, heißt es im Dokument. Bleibt noch der Einsatz von Fluorid. In letzter Zeit haben Wissenschaftler dieses Anion kritisch unter die Lupe genommen. Es ersetzt einerseits OH-Gruppen aus Hydroxylapatit – hierbei entsteht ein in Säuren schwerer lösliches Mineral. Andererseits gibt es Hinweise, dass Streptococcus mutans bei Anwesenheit von Fluorid weniger Säure produziert.
Zum wissenschaftlichen Hintergrund der chemischen Prophylaxe gibt es hunderte an Fachartikeln. Bereits 2007 untersuchte Professor Dr. Klaus Pieper 1.237 Zwölfjährige. Kinder, die bis zum zweiten Lebensjahr Fluoridtabletten bekommen hatten, wiesen signifikant niedrigere DMFT-Werte (decayed, missed, filled tooth; Zahl der kariösen, wegen Karies gezogenen oder gefüllten Zähne) auf als Vergleichsgruppen ohne Fluorid-Prophylaxe. Eine Studie von Senay Yüksel zeigte ebenfalls, dass Vorschulkinder, die regelmäßig Fluoridtabletten eingenommen hatten, deutlich niedrigere DMFT-Mittelwerte aufwiesen als Gleichaltrige ohne entsprechende Supplementation. „Die verfügbaren Daten zur Tablettenfluoridierung weisen auf eine sowohl topische als auch systemische kariesprophylaktische Wirkung hin, wobei für die langfristige Kariesprävention der topische Effekt von größerer Bedeutung ist“, heißt es in der DGZMK-Leitlinie zu Fluoridierungsmaßnahmen. „Deshalb sollten Fluoridtabletten nach dem Zahndurchbruch möglichst gelutscht werden, um die topische Wirkungskomponente bestmöglich zu nutzen.“ Kürzlich veröffentlichte das US-amerikanische ADA Center for Evidence-Based Dentistry eine Metaanalyse von 71 Studien. Daraus leiten Zahnärzte evidenzbasierte Empfehlungen für fluoridhaltige Lacke, Mundspüllösungen oder Zahncremes ab. Die Effektivität aller Maßnahmen ist von der Fluoriddosis und der Anwendungsfrequenz abhängig. Bei älteren Menschen erweist sich die Datenlage als etwas schlechter. „Es deutet nichts darauf hin, dass der prophylaktische Effekt sich wesentlich von dem jüngerer Menschen unterscheidet“, heißt es als Kommentar im Papier „Grundlegende Empfehlungen zur Kariesprophylaxe im bleibenden Gebiss“. Höhere Fluoridmengen führen jedoch zu Dental- und Skelettfluorosen. Zähne und Knochen verlieren dann ihre Elastizität, sie werden brüchiger. Eine Ausnahme sind in diesem Zusammenhang Zahncremes mit 5.000 ppm Fluorid. Klinischen Studien zufolge leisten die Präparate einen Beitrag, um Wurzelkaries zu vermeiden. Jenseits aller wissenschaftlichen Fakten nimmt das Thema politische Dimensionen an.
Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) rät Eltern, bei ihrem Nachwuchs ab dem Durchbruch der ersten Zähne Zahncremes mit Fluorid zu verwenden. Für Sprösslinge unter sechs Jahren gibt es Produkte, die nur 500 ppm enthalten, während ältere Kinder Pasten mit bis zu 1.500 ppm verwenden sollten. Produkte mit Fruchtgeschmack führen oft zum Herunterschlucken und sollten deshalb nicht verwendet werden. Hier gibt die Bundeszahnärztekammer Entwarnung. „Untersuchungen zeigen, dass eine ständige Fluoridaufnahme bei Kindern bis zum Alter von sechs bis acht Jahren, die mehr als das Doppelte der empfohlenen Zufuhr beträgt, zu geringfügigen weißlichen Schmelzflecken führen kann (Zahnfluorose), die nicht mit gesundheitlichen Nachteilen verbunden sind“, heißt es in einer aktuellen Mitteilung. „Bei stärkerer Überdosierung kann es zu deutlich braunen Zahnverfärbungen kommen. Eine Fluoridzufuhr, die zu einer Knochenfluorose führt (10 bis 25 mg Fluoride pro Tag über mindestens 10 Jahre), kann durch die Verwendung der herkömmlichen Zufuhrarten (z. B. Trinkwasser, Speisesalz, Tabletten) nicht auftreten.“ Demgegenüber favorisieren die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin regelmäßige Fluoridgaben von 0,25 mg pro Tag in den ersten sechs Lebensmonaten. Nach Durchbruch der Milchzähne sollte eine tägliche Zahnpflege mit hinzukommen. Da Kleinkinder häufig Zahnpasta verschlucken, raten Pädiater von fluoridhaltigen Zahncremes ab.
Fluorid gebürstet oder gelutscht – egal, das eigentliche Problem liegt an einer anderen Stelle. Zu Beginn ihres Lebens sehen kleine Patienten fast nur ihren Pädiater. Jetzt fordern Zahnärzte, Kinder bereits ab dem sechsten Monat regelmäßig zu untersuchen – bislang ist das erst ab zweieinhalb Jahren möglich. In Sachsen-Anhalt greift seit April ein Vertrag zwischen der Kassenzahnärztlichen Vereinigung und der Barmer GEK: Mädchen und Jungen zwischen sechs und 30 Monaten haben Anspruch auf zwei Früherkennungsuntersuchungen.