Wenn unsere Gesellschaft immer älter wird, werden wir uns daran gewöhnen müssen, unter vielen Menschen mit Demenz zu leben. Aber wird es wirklich so schlimm, wie Gesundheitspropheten voraussagen? Studienergebnisse der letzten drei Jahre überraschten auch Experten.
Die neusten Zahlen könnten uns daran zweifeln lassen, ob wir wirklich immer länger leben wollen. Denn die Demoskopen jener Fachverbände, die sich der Demenz und Morbus Alzheimer verschrieben haben, sagen, dass uns eine drückende Last an Erkrankten in den nächsten Jahrzehnten erwartet.
Die Dringlichkeit ist dabei schon in die höchsten politischen Kreise vorgedrungen. Die Pflegekosten dürften die Staatshaushalte in den Industrieländern so stark belasten, dass sich im Dezember letzten Jahres sogar der G8-Gipfel der Gesundheitsminister in London mit dem Thema „Demenz im Alter“ auseinandersetzte. Die internationale Alzheimer Vereinigung schätzt die derzeitige Zahl der Patienten mit Demenz derzeit auf rund 44 Millionen. Für das Jahr 2050 sagt sie eine dreimal höhere Zahl von rund 135 Mio. Erkrankten voraus. Auch für Deutschland erwarten viele Experten eine ähnliche Entwicklung, nicht nur für Alzheimer, sondern für Demenzerkrankte generell: Aus den derzeit 1,4 Millionen mit altersbedingt eingeschränkten mentalen Fähigkeiten sollen bis Mitte des Jahrhunderts rund drei Millionen Menschen werden. Wenn diese Prophezeiungen eintreffen, dürfte der Staat etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Pflege dieser Menschen ausgeben. Die Rate der dementen Bewohner von Alten- und Pflegeheimen wird von heute 60 Prozent auf 80 Prozent steigen.
Aber es gibt auch Kurven, die in eine andere Richtung weisen: Mehrere Studien zeigen, dass die Zahl der Erkrankungen, zumindest auf eine Altersgruppe bezogen, eher wieder nach unten geht. Im Juli letzten Jahres publizierte Lancet den Vergleich zweier britischer Studien zur Demenzentwicklung im Abstand von zwanzig Jahren. Lag die Prävalenz vor mehr als 20 Jahren noch bei 8,3 Prozent, bot die zweite Studie in den Jahren 2008 bis 2011 mit den gleichen Untersuchungsmethoden den Forschern einen erheblichen, aber freudigen Überraschungsmoment. Denn statt einer konstanten oder gar steigenden Rate lag die Quote nun bei 6,5 Prozent. Eine dänische Studie verglich im Abstand von zehn Jahren Menschen, die jeweils 1905 bzw. 1915 geboren worden waren. Bei ähnlicher physischer Gesundheit machten die später geborenen einen wesentlich besseren Eindruck bei der geistigen Fitness. Schließlich nahm ein Report im New England Journal im November letzten Jahres fünf große Studien aus den USA, Schweden Großbritannien und den Niederlanden zum Thema Demenzentwicklung unter die Lupe. Eric Larson aus Seattle und seine Kollegen aus San Francisco und Ann Arbor weisen darin auf eine Abnahme der schweren Demenzen bei über 65-Jährigen in den USA hin – von 5,7 auf 2,9 Prozent in den Jahren zwischen 1982 bis 1999. In der sogenannten „Rotterdam-Studie“ sank die Inzidenz für Demenz bei Menschen jenseits der 55 von 6,5 Fällen pro 1000 Personen im Jahr 1990 auf 4,9 Fälle zehn Jahre später. Wichtig ist bei diesen Zahlen die Unterscheidung von Inzidenz und Prävalenz. So könne es bei der starken Zunahme im oberen Teil der Alterspyramide durchaus sein, dass die Prävalenz der Demenz noch leicht zunehme, auch wenn die Zahl neuer Fälle von mentaler Umnachtung zurückgingen, so Larson.
Geht man bei den Zahlen der niederländischen Untersuchung noch etwas mehr ins Detail, so fällt auf, dass die Rate besonders für Menschen im Alter von 70 bis 79 innerhalb von zehn Jahren um die Hälfte sank. Zusätzliche Kernspinuntersuchungen bestätigten die Tests. Die später geborene Gruppe besaß ein größeres Hirnvolumen. Schlaganfälle kamen bei ihnen seltener vor. Es scheint also, dass Altern allein noch nicht automatisch dafür verantwortlich ist, dass die geistigen Kräfte nachlassen. Für das langsame Schwinden des Bewusstseins sorgt dafür neben Morbus Alzheimer vor allem die vaskuläre Demenz sowie andere eher seltene Formen. Mischtypen sind gerade bei Hochbetagten nicht selten. Bis auf wenige Ausnahmen beeinträchtigt die mangelnde Spritzigkeit im Denken unser Leben kaum vor dem 60. Lebensjahr. Selbst in den zehn Jahren danach trifft es uns nur mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent. Dann aber geht es steil bergauf: jeder zwanzigste bis 80 leidet unter einer Demenz.
Woran könnte es jedoch liegen, dass wir trotz Problemen mit Übergewicht, Gefäßkrankheiten und steigender Diabeteszahlen immer länger geistig fit bleiben? Experten tendieren in ihren Erklärungen zu einer Mischung verschiedener Einflussfaktoren. Dabei fällt immer wieder der Ausdruck „kognitive Reserve“. Intensive soziale Interaktion im Freundes- und Bekanntenkreis, ob virtuell oder real, fordern das Gehirn ständig zur Leistung heraus. Das gilt auch für Spiele und die vielfältigen Möglichkeiten auch für Ältere, noch eine Sprache oder ein neues Musikinstrument zu lernen. Wer auf diese Weise ständig neue Verknüpfungen im Gehirn aufbaut, der kann bei einem Ausfall einer Gehirnregion wohl auch leichter „umschalten“. Auch ganz individualisierte Trainingseinheiten über Spiele (DocCheck berichtete im September 2013 darüber) könnten möglicherweise noch eine zusätzliche Gedächtnisreserve schaffen. Auch das Wissen um die Kraft regelmäßiger Bewegung und Sport könnte dazu beitragen, dass das zentrale Nervensystem regelmäßig gut durchblutet und mit entsprechenden wichtigen Faktoren versorgt wird. Paul Thompson, Neurologe aus Los Angeles, meint: „Ab zehn Prozent Verlust der Gehirnsubstanz messen wir kognitive Beeinträchtigungen; und drei Prozent können allein durch regelmäßige Bewegung bewahrt werden.“ Schließlich scheint ähnlich wie bei Gefäßkrankheiten auch die Ernährung einer dieser bedeutsamen Faktoren gegen die mentale Verfinsterung zu sein. So senken Folsäure und andere B-Vitamine den Homocystein-Spiegel, der bei hohen Werten Gefäße schädigt und damit zu verminderter Versorgung auch im Gehirn beiträgt.
Peter Elwood und seine Kollegen aus dem britischen Cardiff und Bristol veröffentlichten vor einigen Monaten in PloS One Daten von rund 2000 Walisern, deren Lebensgewohnheiten eine Langzeitstudie seit 35 Jahren regelmäßig beobachtet. Das Ergebnis der Auswertung: Wer sich demnach gesund ohne übermäßig viel Alkohol und Nikotin ernährt und dabei auf Bewegung und Gewicht achtet, senkt das Risiko sowohl für den mäßigen Verlust an Gehirnleistung als auch für Demenz um rund zwei Drittel. Die genetische Ausstattung für die mentale Langlebigkeit und überregionale Umweltfaktoren dürften dagegen weniger leicht zu beeinflussen sein. So fand etwa Gabriele Doblhammer vom Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in Rostock in einer europäischen Studie heraus, dass Menschen, die das Glück hatten, in Zeiten eines Wirtschaftsaufschwungs geboren zu werden, deutlich bessere Chancen auf ein Altern ohne allzu große geistige Einschränkungen haben.
„Noch werden zwei Drittel der Demenzkranken zu Hause betreut. Das wird so nicht weitergehen“, prognostiziert Hans-Jürgen Freter, Sprecher der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die zukünftige Entwicklung der mentalen Altersschwäche. Wenn die Pflegekosten für den Patienten die Lohnkosten übersteigen, stößt das Gesundheitssystem an seine Grenzen. Über neue Modelle zur Finanzierung, aber auch über die „Auslagerung“ der Pflege wird intensiv nachgedacht. So war vor kurzem über ein Pflegeheim für deutschsprachige demente Patienten in Thailand zu lesen, das vorerst noch für Wochen oder wenige Monate die Angehörigen entlasten soll. Eine langfristige Betreuung von Patienten wollen die Betreiber jedoch nicht ausschließen. Eine solche „Rund um die Uhr“-Pflege wäre in Europa nur von gut Situierten zu bezahlen. Beim Blick auf die eher sinkende Rate für Demenzerkrankungen bei gleichzeitig zunehmender Lebenserwartung sprechen einige schon von interessengeleiteter Verbreitung einer Untergangsstimmung. Eine genaue Ursachenforschung für die eigentlich erfreulichen Zahlen steht jedoch noch aus. So weiß man bisher nicht genau, warum die Rate bei Frauen stärker als bei Männern zurückgeht und welche Wirkung Einflüsse in der frühen Kindheit auf das alternde Gehirn haben. Ziemlich sicher ist jedoch, dass eine Lebensweise, die gut für Herz und Kreislauf ist, auch unser Denkorgan länger intakt hält.