Erkältungen kommen nie gelegen. Aber manchmal muss man trotzdem weiter funktionieren. Spätestens dann kommen Apotheker in den Konflikt: Wirklich helfen tun nur Zeit und Ruhe. Die lassen aber die Kassen nicht klingeln.
Früher oder später bekommt jeder Pharmazeut sie serviert, die Gretchenfrage unseres Berufs: Sind wir Kaufleute oder Heilberufler? Die Frage wirkt nur so lange theoretisch, bis man vor dem Erkältungsregal steht. Da türmen sich bunte Schachteln, die versprechen, dass man bei einer Erkältung „schnell wieder auf die Beine kommt“ obwohl sie in Wahrheit vor allem Symptome maskieren. Direkt daneben gibt’s Immunbooster, die eher teuren Urin produzieren als die Konsumenten vor dem nächsten Schnupfen zu schützen. Aspirin Complex, Grippostad C, Wick MediNait, BoxaGrippal, Orthomol Immun, „Immun-Aktiv“-Kapseln, „Abwehr plus“-Brausetabletten in allen Farben und Darreichungsformen. Und wir in der Offizin stehen dazwischen und sollen erklären, was davon hilft – und was eher in die Kategorie „Apothekentheater“ fällt.
Aspirin Complex: ASS plus Pseudoephedrin – also Schmerzmittel plus systemischer Schleimhautabschweller.
BoxaGrippal: Ibuprofen plus Pseudoephedrin – gleiche Idee, anderes NSAR.
Grippostad C: Paracetamol, Pseudoephedrin, Chlorphenamin (schön sedierendes H1-Antihistaminikum) und Vitamin C.
Wick MediNait: Paracetamol, Dextromethorphan, Doxylamin & Co. im Nacht-Sirup-Format mit Alkohol zur Sedierung. Top verträglich für die Leber – super Idee.
Auf Kundenseite wirkt das gern wie Magie: Der Kopf tut weniger weh, die Nase ist frei, man fühlt sich ein bisschen aufgeputscht oder angenehm müde – je nach Cocktail. Pharmakologisch ist es weniger Magie als Mathematik: Analgetikum + Dekongestivum ± sedierendes Antihistaminikum ± Antitussivum. Mehr ist da nicht.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob jemand sich für ein paar Stunden besser fühlt – das tun die meisten. Die wirklich interessante Frage lautet: Verkürzen Aspirin Complex & Co. die Erkältungsdauer? Es gibt ein Cochrane-Review zu genau diesen Kombi-Präparaten. Das Ergebnis in Kurzform: Bei Erwachsenen und größeren Kindern werden die Symptome etwas gebessert, wenn man Gesamt-Symptom-Scores anschaut. Der Effekt ist aber klein und für einzelne Symptome oft grenzwertig relevant. Für die Dauer des Infekts gibt es keine überzeugenden Belege, dass die Kombis das virale Geschehen nennenswert abkürzen. Mit anderen Worten: Ja, der Patient fühlt sich mit Aspirin Complex, Grippostad C oder Wick MediNait kurzzeitig „funktionstüchtiger“ – doch die Viren interessiert das nur mäßig. Die Kombis sind symptomatische Komfortprodukte, keine „Grippe-Killer“. Dazu kommen die bekannten Schattenseiten: Pseudoephedrin bei Hypertonie, Schlafstörungen, Herzrasen; sedierende Antihistaminika im Straßenverkehr; Paracetamol kumulativ überall drin. Nett für eine Prüfung, wenn man unbedingt funktionieren muss – aber nichts, was man als Basistherapie an alle Schnupfennasen der Republik verkaufen müsste.
Wechseln wir nun zum Nachbarregal. Hier wird nicht mit freier Nase geworben, sondern mit „normaler Funktion des Immunsystems“ in Fettdruck. Orthomol Immun, Orthomol Immun pro, Immun-Komplexe anderer Hersteller, gern in 30-Tage-Rationen für ordentliche zweistellige Beträge. Der typische Inhalt: hochdosiertes Vitamin C, Vitamin D, Vitamin E, B-Komplex, Vitamin A, Folsäure, Zink, Selen, manchmal Kupfer, Eisen, dazu ein paar sekundäre Pflanzenstoffe für das gute Gefühl. Alles in allem: eine Multivitamin-/Multimineralkombi auf Steroiden.
Es gibt tatsächlich eine placebokontrollierte Doppelblindstudie mit einer Mikronährstoffkombination, die (u. a. von Orthomol) gerne zitiert wird: 192 Patienten mit rezidivierenden Atemwegsinfekten, Laufzeit 16 Wochen. Primäre Endpunkte: Anzahl, Intensität und Verlauf der Infekte, dazu Mikronährstoffspiegel. In einer Subgruppe mit ausgeprägten Symptomen zu Beginn waren die Symptom-Scores unter dem Präparat etwas besser als unter Placebo. Kurz gesagt: Bei speziellen Risikogruppen, die wirklich häufig Infekte haben und teils nachgewiesene Mängel an Vitamin C, D, Folsäure oder Selen aufweisen, kann so eine Kombi Symptome etwas abmildern und Episoden ein wenig verkürzen. Was diese Studie aber nicht zeigt ist, dass jede halbwegs gesunde Person mit zwei Schnupfen pro Winter Orthomol Immun braucht, oder dass Orthomol einen „Immun-Schutzschild“ aufbaut, der uns durch die Erkältungssaison trägt.
Vitamin C in regelmäßiger (nicht: „ich nehme mal was, wenn’s losgeht“) Einnahme verkürzt die Dauer von Erkältungen um etwa 8–14 Prozent, je nach Altersgruppe. Die Häufigkeit der Infekte ändert sich kaum. Therapeutisch ab Symptombeginn ist der Effekt deutlich kleiner bis gar nicht nachweisbar.
Zink in ausreichend hoher Dosis (≥75 mg/Tag als Lutschtabletten, früh begonnen) kann die Erkältungsdauer um rund ein Drittel verkürzen – allerdings mit ordentlichem Nebenwirkungspotenzial (Geschmack, Übelkeit).
Vitamin D: Ältere Meta-Analysen sahen einen gewissen Schutz bei starkem Mangel, neuere große RCTs relativieren das deutlich – der Effekt, wenn vorhanden, ist klein.
All das ist interessant, aber: Man kann Vitamin C, Zink und Vitamin D bei nachgewiesenem Mangel gezielt und günstig substituieren. Dafür braucht es nicht zwingend ein Markenprodukt in blauer oder knallgelber Optik. Womit wir beim „teuren Urin“-Vorwurf wären: Wasserlösliche Vitamine, die über das hinausgehen, was der Körper sinnvoll aufnehmen und nutzen kann, landen im Zweifel in der Toilette. Das ist kein Drama – aber eben auch kein Wunder.
Jetzt wird’s unsexy, aber wichtig: Die banalen Dinge, die niemand auf einem Thekenaufsteller bewirbt, sind und bleiben Schlaf und Ruhe. Eine klassische Studie von Cohen et al. hat Menschen systematisch mit Rhinoviren konfrontiert (ja, wirklich!). Und zuvor deren Schlafverhalten gemessen: Wer weniger als 7 Stunden pro Nacht schlief, hatte ein rund dreifach erhöhtes Risiko, tatsächlich einen Infekt zu entwickeln. Schlechte Schlafeffizienz erhöhte das Risiko zusätzlich. Heißt übersetzt: Der nächtliche Scrollmarathon auf dem Handy torpediert die Immunabwehr messbar stärker als das Auslassen der abendlichen Orthomol-Ration. Stress spielt übrigens in der gleichen Liga: hohe Stresslevel → mehr Infekte. Der Griff ins Küchenregal wirkt eben auch.
Nasenspülung und Salz: Eine britische Pilotstudie mit hypertoner Kochsalzlösung zum Spülen/Gurgeln fand eine verkürzte Erkältungsdauer um etwa zwei Tage, weniger OTC-Verbrauch und weniger Virusausscheidung. Andere Studien sind uneinheitlicher, insgesamt scheint der Nutzen moderat, aber vorhanden – bei sehr überschaubarem Risiko.
Honig bei Husten: Während wir uns im HV mit Dextromethorphan, Ambroxol & Co. herumschlagen, kommt aus der Studienwelt eine ziemlich bodenständige Botschaft. Cochrane-Review und mehrere RCTs zeigen: Honig kann bei Kindern den Husten etwas besser lindern als Placebo, keine Behandlung oder einige klassische Hustenmittel. Vor allem der Nachtschlaf wird oft besser – bei Kind und Eltern. Es gibt eine praktische Einschränkung: kein Honig unter einem Jahr (Säuglingsbotulismus!). Aber ansonsten ist „ein Teelöffel Honig vor dem Schlafengehen“ eine Empfehlung, die in Leitlinien inzwischen prominenter platziert ist als so manche bunte Hustensaftflasche.
Hühnersuppe: Uromas Geheimtipp ist nicht komplett aus der Luft gegriffen. In vitro konnte gezeigt werden, dass Hühnersuppe die Chemotaxis von Neutrophilen hemmt. Sie hat einen antiinflammatorischen Effekt auf Zellebene. Klinische Daten sind zwar dünn, aber ganz ehrlich: Eine warme Brühe mit etwas Eiweiß, Salz und Flüssigkeit ist eine subjektive Wohltat – und das liegt auf jeden Fall näher an ‚evidenzbasiert sinnvoll‘ als so manche Immun-Shot-Phantasie.
Und dann wiederholt sich die gleiche Botschaft: Vieles davon macht die Erkältung nicht „weg“, aber es hilft dabei, sie zivilisiert zu ertragen – ohne relevante Risiken und ohne der Pharmaindustrie 15 Euro pro Tag zu überweisen.
Wenn man in die DEGAM-Leitlinien zu Husten und Halsschmerzen schaut, wird es schnell ernüchternd: Die meisten rezeptfreien Erkältungsmedikamente haben keine robuste Evidenz, wenn es um Krankheitsverkürzung geht. Empfohlen werden vor allem: Flüssigkeit, Rauchverzicht, körperliche Schonung, ggf. Paracetamol oder Ibuprofen bei deutlichen Beschwerden und eine zeitlich begrenzte (!) Anwendung von abschwellenden Nasensprays. Kurzfassung: Das Immunsystem macht die Arbeit, wir dürfen es etwas komfortabler gestalten – mehr passiert aber eh nicht.
Zurück zur Gretchenfrage. Am Erkältungsregal entscheidet sich unsere Haltung im Kleinen. Man darf ja den Kunden durchaus etwas empfehlen – Nasenspray, Ibuprofen, Meersalzspray, einfache Vitaminpräparate. Aber man verkauft eben das, wofür es zumindest halbwegs nachvollziehbare Evidenz gibt und das mit vertretbaren Kosten und Risiken einhergeht. Die bunten Kombis und Booster müssen dann nicht verschwinden. Sie landen da, wo sie hingehören: als Option, wenn Kunden trotz ehrlicher Aufklärung genau das möchten – aber sollten nicht die erste, lauteste Antwort auf jedes „Ich bin erkältet“ sein. Schließlich sind Erkältungen selbstlimitierend und ein bisschen entwürdigend, aber selten gefährlich. Was sie für die Industrie attraktiv macht. So werden jede Menge Produkte verkauft, ohne dass jemand ernsthaft überprüft hat, ob die Erkältung wegen oder trotz der Einnahme nach einer Woche weg ist.
Für uns in der Apotheke kann dieses banale Krankheitsbild aber auch der Ort sein, an dem wir unsere Berufsidentität schärfen. Sagen wir ehrlich: „Das hilft vor allem gegen Symptome, nicht gegen die Dauer des Infekts“? Trauen wir uns, Schlaf, Tee, Hühnersuppe, Nasenspülung und Honig offensiv zu empfehlen – obwohl damit niemand reich wird? Nutzen wir Orthomolekular-Mittel gezielt bei denen, die sie wirklich brauchen könnten – statt sie als Allheilmittel an jede leicht verschnupfte Nase zu bringen? Wenn wir diese Fragen eher mit „ja“ als mit „kommt drauf an, was gerade im Abverkauf ist“ beantworten, sind wir ziemlich klar auf der Heilberufs-Seite. Der Umsatz leidet darunter meistens übrigens weniger als man denkt. Aber das eigene Gefühl, im weißen Kittel nicht nur als Verkaufsprofi, sondern als medizinische Ansprechperson dazustehen, steigt enorm. Vielleicht ist genau das der beste Booster für das Immunsystem unseres Berufsstandes.
Bildquelle: Rendy Novantino