KOMMENTAR | Sie erfüllen ein Bedürfnis, das in der modernen Medizin oft zu kurz kommt: Sie nehmen sich Zeit. Heilpraktiker könnten prinzipiell eine wertvolle Ergänzung sein – gäbe es nicht Zweifel an ihren Methoden.
Immer mehr Patienten suchen bei Heilpraktikern, was sie in Arztpraxen vermissen: Dort nimmt sich jemand Zeit, hört zu, stellt den Patienten in den Mittelpunkt. Kurz gesagt: Ein Heilpraktiker hat die Kapazitäten, sich so zu kümmern, wie auch viele Ärzte es gerne würden – wenn sie denn die zeitlichen Ressourcen hätten. Und das allein kann für Patienten Gold wert sein. Sollten Ärzte es also begrüßen, wenn ihre Patienten zusätzlich einen Heilpraktiker aufsuchen? Oder vielleicht sogar dazu raten, weil es eben in der Praxis leider nicht möglich ist, den Patienten mehr Zeit zu schenken?
Klingt erstmal nicht so abwegig, wäre da nicht eine weitere Frage: Woher soll ein Arzt das Vertrauen nehmen, das nötig ist, um einen Patienten guten Gewissens an einen Heilpraktiker zu verweisen? Und die Antwort auf diese Frage wiederum ist ernüchternd: Pauschales Vertrauen ist – Stand jetzt – nicht möglich.
Das Verhältnis zwischen Ärzten und Heilpraktikern ist seit jeher schwierig. Auf beiden Seiten herrscht Skepsis gegenüber der anderen Berufsgruppe und aus beiden Richtungen kommt – meist verallgemeinernde – Kritik am Gegenüber. Regelmäßig heizen sich die Gemüter auf, Gefühle werden verletzt, Egos gekränkt. Dabei sollte man meinen, dass beide Gruppen dasselbe Interesse haben: Symptome lindern, Erkrankungen diagnostizieren und im besten Fall heilen. Schauen wir uns einige Hauptstreitpunkte beider Seiten einmal an:
Der Zeitmangel in der ärztlichen Versorgung ist ein valider Kritikpunkt der Heilpraktiker, dem sicherlich das Gros der Ärzte ohne Zögern zustimmen würde. Die enge Taktung der Termine im Gesundheitssystem, wo eine Termindauer unter 10 Minuten eher die Regel als die Ausnahme ist, führt auch unter Ärzten oft zu Frust. Den Drang von Patienten, sich diese Zeit anderswo zu suchen, ist also nur zu gut nachvollziehbar. Allerdings sind Heilpraktiker aus ärztlicher Sicht keine Lösung für dieses Problem.
Damit kommen wir zum nächsten Kritikpunkt der Heilpraktiker: Sie fühlen sich von Ärzten kategorisch nicht ernst genommen, obwohl es sich um eine rechtlich anerkannte Berufsgruppe handelt. Mit dieser Wahrnehmung haben Heilpraktiker bestimmt nicht unrecht: Werden Ärzte mit dem Thema konfrontiert, ist da oft eine Wand aus Skepsis und Misstrauen. Aus Ärztesicht ist das durchaus gerechtfertigt, denn der Weg zum Heilpraktiker ist in Deutschland immer noch erstaunlich kurz und uneinheitlich. Es gibt zwar Heilpraktikerschulen, die mehrjährige Ausbildungskonzepte anbieten, der Besuch einer solchen Schule ist aber keine Pflicht. Die Ausbildungsdauer ist nicht festgelegt, ebenso wenig die Lehrpläne. Die einzige Pflicht: Eine Überprüfung beim Gesundheitsamt, die jedoch nicht dazu dient, festzustellen, ob der Prüfling therapeutisch-medizinisch kompetent ist. Das Ziel ist lediglich, sicherzustellen, dass keine Gefahr für die Volksgesundheit besteht. Das wird der Komplexität der Humanmedizin ganz einfach nicht gerecht.
Wenn ein Patient nach einem Heilpraktiker sucht, kann er also einerseits auf jemanden treffen, der mehrere Jahre eine Schule besucht hat oder jemanden, der sich im Selbststudium auf die Prüfung vorbereitet hat. Aus der Berufsbezeichnung allein geht nicht einmal hervor, ob der jeweilige Praktiker in seiner Ausbildung jemals einen Patienten gesehen hat. Was also fehlt, sind einheitliche Standards. Dafür gibt es mit Bestehen der Prüfung jede Menge therapeutische Freiheit. Dabei werden Therapien angewendet, bei deren Anordnung Ärzten ein Kunstfehler unterstellt werden würde. Wie kann man da einen Patienten guten Gewissens zum Heilpraktiker weiterleiten?
Besonders widersprüchlich wird es, wenn z. B. approbierte Zahnärzte eine zusätzliche Heilpraktikererlaubnis erwerben. In ihrer zahnärztlichen Tätigkeit dürfen sie – trotz Studium, Staatsexamen und klinischer Ausbildung – ausschließlich im Bereich der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde arbeiten. Mit der Heilpraktikererlaubnis eröffnen sich dann plötzlich ganz neue Möglichkeiten: Der gesamte Körper wird zum Behandlungsfeld. Wie passt das zusammen?
Um einer erbosten Entgegnung der Heilpraktiker direkt zu begegnen: Ja, es gibt ohne Frage Heilpraktiker, die verantwortungsvoll arbeiten, mit ihren Patienten gewissenhaft umgehen und die Grenzen ihres Handlungsspielraums kennen und respektieren. Heilpraktiker, die mit Ärzten zusammenarbeiten wollen, weil ihnen am Ende vor allem das Wohlergehen ihrer Patienten am Herzen liegt. Doch aus diesem individuellen Verantwortungsbewusstsein lässt sich kein strukturelles Vertrauen ableiten – genauso wenig, wie sich aus der Existenz einiger inkompetenter Ärzte ein generelles Misstrauen dem Berufsstand gegenüber ableiten lässt. Die zentrale Frage ist also: Wie sollen Ärzte ein positives Bild vom Heilpraktikerwesen entwickeln, wenn niemand sagen kann, woran sich gute Heilpraktiker überhaupt erkennen lassen?
Ein häufig genannter, zugegebenermaßen etwas überspitzter Vergleich ist der „Flugpraktiker“, der anstelle eines Piloten mit streng geregelter Ausbildung ein Flugzeug steuert. Was ihn dazu befähigt? Eine theoretische Unbedenklichkeitsprüfung. Erfahrungen im Cockpit sammelt er dann später. Wer würde sich da gerne in den Flieger setzen? Klar, einzelne Flugpraktiker nehmen ihre Aufgabe sicher sehr ernst und sorgen dafür, dass sie ausreichend Flugpraxis gesammelt haben, bevor sie eine Maschine mit Passagieren steuern. Aber man kann eben nicht davon ausgehen, dass man es mit einem verantwortungsvollen Flugpraktiker zu tun hat.
Immer wieder wird also aus Reihen der Ärzte und Wissenschaft gefordert, das Heilpraktikerwesen zu reformieren und verbindliche Regeln für die Ausbildung zu schaffen. An dieser Stelle ergibt sich die wichtige Frage an alle Heilpraktiker, denen das Wohl ihrer Patienten am Herzen liegt: Sollte nicht genau das auch in eurem Interesse sein? Wer Vertrauen und Respekt fordert, sollte doch auf der anderen Seite keine Angst vor einer Überprüfung seiner Kenntnisse haben. Wer einen heilenden Beruf ausübt, sollte auch bereit sein, in eine klar strukturierte Ausbildung zu investieren.
Wie eingangs erwähnt: Es ist eine aufgeheizte Debatte mit verletzten Gefühlen und angegriffenem Stolz als Brandbeschleuniger. Aber am Ende sollte es nicht um Standesdünkel gehen, sondern um Patientensicherheit und Verantwortung. Patienten brauchen Zeit und Zuwendung. Dass beides im ärztlichen Kontext oft zu kurz kommt, ist eine traurige Wahrheit, an der gearbeitet werden sollte, auch wenn Lösungsvorschläge bislang rar sind. Aber wenn der Zeitmangel Patienten zur Suche nach Alternativen motiviert, dann sollte es auch Alternativen geben, bei denen Patienten darauf vertrauen können, dass sie in guten Hände landen. Und das geht nur über Transparenz und verlässliche Standards. Solange das Heilpraktikerwesen also auf uneinheitlichen und wackeligen Füßen steht, können Ärzte ihren Patienten keine vertrauensvolle Empfehlung aussprechen. Wer als Ergänzung der modernen Medizin wahrgenommen werden möchte, darf sich nicht gegen Reformen stemmen, sondern sollte sie im Gegenteil aktiv einfordern.
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