Das Kind vor mir hat eine blaue Zunge, außerdem Fieber und Halsschmerzen. Eine Zyanose kann ich ausschließen und die Blauzungenkrankheit befällt keine Menschen. Zeit für Ursachenforschung – die ich eigentlich nicht habe.
Ein Gastbeitrag von Dr. Birgit Sickel.
Die Blauzungenkrankheit gibt es tatsächlich – allerdings nur bei Weidetieren. Ich hatte das früher schon einmal nachgelesen, und ja: Für Menschen ist dieses durch Gnitzen – also winzige, blutsaugende Mücken – übertragene Virus völlig harmlos. Für Rinder und Schafe dagegen eher weniger.
Im heutigen Notdienst habe ich nun ein junges Mädchen vor mir: blaue Zunge, Fieber, Halsschmerzen, aber ansonsten bestens gelaunt. Eine echte Zyanose sieht definitiv anders aus. Blaue Zungen, isoliert, habe ich in meinen 30 Berufsjahren schon häufiger gesehen – und in 99,9 % der Fälle war nicht die Natur schuld. Meist ist es die übertriebene Fürsorge der Eltern, die ihren Kindern zur Beruhigung kurz vor der Untersuchung noch etwas in den Mund stecken. Klebrige, farbintensive Süßigkeiten hinterlassen Spuren, manchmal eben auch blaue Zungen. Schlumpf-Eis führt dabei die Hitliste an, blaue Lollis sind auch nicht besser. Doch auch echte wilde Heidelbeeren färben intensiv und hartnäckig.
Zur Erinnerung: Die Zungenfarbe ist in der Medizin durchaus hilfreich – eine Himbeer- oder Erdbeerzunge bei Scharlach zum Beispiel erlaubt eine rasche Blickdiagnose. Nach dem Genuss von stark haftenden künstlichen Pigmenten ist davon allerdings nichts mehr zu erkennen. Dann heißt es: auf Nummer sicher gehen und einen Strep-A-Test machen. Es ist schade, wenn die Zunge nach „Schlumpf Deluxe XXL“ aussieht, während ich eigentlich nach „Himbeer Klassik“ suche.
Also frage ich die Mutter des Mädchens, was denn so in der letzten Zeit gegessen worden sei. „Eis“, so die Mutter, kurz und knapp. Das solle man doch geben. Ja, Eis bei Halsschmerzen – meinetwegen, in kleinen Mengen. Aber bitte nicht gefärbt mit Brillant Blau FCF kurz vor der Untersuchung. Da die Mutter die Färbung aber gar nicht bemerkt hatte, musste ich wenigstens nichterklären, warum ihr Kind trotz blauer Zunge keine seltene ansteckende Wiederkäuerkankheit hat. Glück gehabt – manchmal ist Unwissenheit eben doch ein Segen.
Heutzutage ist allerdings etwas anderes hochansteckend: elterliche Unvernunft. Immer öfter werden Kinder vor oder sogar während der Untersuchung mit Snacks bespaßt oder ruhiggestellt. Lollis mit Geschmack und Farbe – siehe oben. Fehldiagnose Scharlach möglich. Dinkelstangen, Reiswaffeln, Schokobrötchen: Die Krümelmenge im Untersuchungszimmer lässt manchmal vermuten, man hätte zuvor eine Bäckerei geplündert. Und ich darf dann entscheiden: Sind das echte Beläge, vielleicht eine infektiöse Mononukleose – oder nur die Reste der letzten Snack-Attacke?
Spätestens, wenn ich auf die Aspirationsgefahr hinweise, geht den Eltern ein Licht auf. Dann beginnt der Showdown: Irgendwo muss ein Getränk her, das Kind muss es akzeptieren und trinken – und ich darf geduldig warten. Und warten und weiterhin freundlich warten, bis alles geschluckt wurde undder Mund (und das Kind) bereit ist für eine Racheninspektion. Wartezeit, die in der zeitlich eng getakteten Notfallpraxis so nicht vorgesehen ist.
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