KOMMENTAR | Der Drogenbeauftragte Hendrik Streeck hat eine Debatte um Ressourcenverteilung losgetreten – zumindest, bis er nach ein paar Tagen zurückruderte. Schade, es wäre eine gute Chance gewesen.
Da hat ein Politiker schon mal den Mut, ein unpopuläres Thema anzusprechen, doch kaum bläst der Wind von vorne, rudert er zurück, bis man sich am Ende fragt: Wohin will der Mann? Gemeint ist Hendrik Streeck, CDU-Gesundheitspolitiker und ranghöchster Drogenbeauftragter im Land. In einer Talksendung fragte er, ob man sehr alten Patienten noch sehr teure Medikamente geben sollte. Das konnte, nein musste man als Beitrag zur Verteilungsdebatte verstehen. Doch wenige Tage später schob er in der Rheinischen Post einen Kommentar nach: War alles ganz anders gemeint.
Worauf will Streeck denn nun hinaus? Dazu eine Vorüberlegung. Bei knappen Ressourcen – etwa Rettungsboote bei Seenot – hat man grundsätzlich drei Möglichkeiten:
Um Streecks Aussagen in dieses Schema einzuordnen: In der Talksendung machte er sich für eine Rationierung stark. Teure Medikamente sollen sehr Alten vorenthalten werden, selbst wenn sie deren Leben verlängern würden. Wenige Tage später ging es ihm dann anscheinend um Rationalisierung, als er unnötige Behandlungen anprangerte, die nur dem finanziellen Ertrag, aber nicht dem Wohl der Patienten dienen. Und während er in der Talkshow eine Lebensverlängerung um jeden Preis infrage stellte, wollte er in seinem Kommentar das Ziel eines langen Lebens offenbar doch nicht antasten, indem er „Eingriffe, die Erlöse bringen, aber keine Lebenszeit“ kritisierte. Und, um die Konfusion perfekt zu machen: Er will seinen Einwurf offenbar gar nicht als Beitrag zur Verteilungsdebatte verstanden wissen. Denn es gehe ihm nicht ums Sparen, versicherte er.
Was also will Streeck? Streicht man alles Widersprüchliche aus seinen beiden Statements, fordert er im Grunde nur, dass die Würde der Patienten stärker in den Fokus rücken sollte. Wow, da muss einer erst mal drauf kommen! Ja, das ist sarkastisch gemeint. Denn hätte sich Streeck die ein oder andere aktuelle Leitlinie zu Gemüte geführt, wüsste er, dass Palliation und Partizipation längst mehr Aufmerksamkeit erhalten. So heißt es etwa in der Leitlinie zum Kolorektalen Karzinom, dass der „Lebensqualität ein zunehmend größerer Stellenwert“ zukommt.
Es ist ein Jammer, dass Streeck nach mutigem Beginn kleinlaut auf Kurs eingeschwenkt ist. Es war vielleicht etwas plump von ihm, ein festes Lebensalter ins Spiel zu bringen, statt differenzierter von den noch zu erwartenden Lebensjahren zu sprechen – schließlich kennt jeder Beispiele von fitten Alten, die auch mit 90 von einer künstlichen Hüfte enorm profitieren.
Mit seinem Schwenk hat Streeck eine Chance vertan, denn die Verteilungsdebatte ist drängender denn je. So haben beispielsweise teure Biologika inzwischen die Volkskrankheiten erreicht, siehe die beiden eben zugelassenen monoklonalen Antikörper bei früher Alzheimer-Demenz. Streeck hätte dieser Diskussion einen neuen Impuls geben können. Die Debatte immer weiter hinauszuschieben, verschafft Politikern vielleicht kurzfristig Sympathiepunkte, aber langfristig stehlen sie sich aus der Verantwortung.
Dabei gab es schon früh Gelegenheiten zum Gegensteuern. Schon vor 20 Jahren beispielsweise lud die Pharmafirma Roche Politiker, Ärzte und Journalisten zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Versorgungsqualität in der Medizin. Was ist möglich? Was ist machbar?“ nach Berlin ein. Zu der Zeit setzte Roche mit seinen drei monoklonalen Antikörpern zur Krebstherapie MabThera®, Avastin® und Herceptin® mehrere Milliarden Euro pro Jahr um. Und es war absehbar, dass weitere folgen könnten. Die Frage war also angesichts begrenzter Ressourcen berechtigt: Was ist machbar? Roche wollte, so hatte es den Anschein, ein Stimmungsbild erstellen, wie lohnend oder riskant weitere Investitionen wären.
Ich hatte erwartet, dass die Politiker die Gelegenheit nutzen würden, der Pharmaindustrie deutlich zu machen: bis hierher und nicht weiter. Von wegen. Fast alle tönten großspurig, dass mehr Geld ins System müsse. Gesundheit habe schließlich ihren Preis und mehr Gesundheit – dank medizinischem Fortschritt – habe halt einen höheren Preis. Roches damaliger Vorstandsvorsitzender Karl Schlingensief war sichtlich überrascht, wie offen die Türen bereits standen, die er einzurennen gedachte. Vor allem die Gesundheitsexperten der Parteien, die aus ihren Sitzungen auf einen Sprung vorbeischauten, überboten sich gegenseitig in ihrer Spendabilität. Rolf Koschek, CDU, prophezeite einen „sprunghaften Anstieg“ der Ausgaben. CSU-Experten Wolfgang Zöller „juckte es nicht“, wenn die Kosten für Medikamente steigen. Und Carola Reimann, SPD, „spürte“ in der Bevölkerung die wachsende Bereitschaft, den „medizinischen Fortschritt solidarisch abzusichern“.
Auch 20 Jahre später scheint beste Versorgung für alle immer noch die heilige Kuh des Gesundheitswesens zu sein. So watschte der Fraktionschef der Linken Sören Pellmann laut Rheinischer Post Streeck dafür ab, am „gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sägen“. Auch Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sieht Streeck „sozialen Unfrieden stiften“. Aber was passiert – die Frage sei erlaubt – mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem sozialen Frieden, wenn ein Greis enorme Kapazitäten bindet, die dann den Jungen fehlen?
Natürlich wäre es sinnvoll, zunächst die Potenziale der Rationalisierung auszuschöpfen. Auf Unnötiges verzichten und die Ressourcen effizienter verteilen, ob nun in Verwaltung oder Versorgung, käme fast allen zugute – außer denen, die dann auf Pfründe verzichten müssten. Doch auch die Rationalisierung hat Grenzen, etwa dann, wenn immer weitere Runden zur Effizienzsteigerung medizinisches und administratives Personal ausbrennen.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken kann Streecks Talkshow-Auftritt übrigens auch nichts abgewinnen. Das Ministerium verfolge nicht diese Strategie, heißt es. Dennoch ist auch Warken klar, dass die Geldtöpfe zwar keinen Boden, wohl aber einen Deckel haben. Sie stimmt deshalb die Gesundheitsbranche auf immer neue Einsparrunden ein, wobei sie in Strukturreformen den Schlüssel zu mehr Effizienz zu sehen scheint.
Neben der Rationalisierung findet auch Stufe zwei, die Priorisierung, Fürsprecher. So berichtete das Ärzteblatt am selben Tag, an dem es Streecks Talkshow-Auftritt vermeldete, von einem Vorstoß der Sächsischen Landesärztekammer. „Die Gesellschaft müsse in einen offenen Diskurs eintreten, welche medizinischen Leistungen unter welchen Umständen solidarisch finanziert werden sollen“, zitiert das Blatt Kammerpräsidenten Erik Bodendieck. Konkrete Beispiele nennt Bodendieck leider nicht, aber immerhin signalisiert er zum einen die Einsicht, dass die Ressourcen endlich sind, und zweitens die Bereitschaft, über Einschnitte nachzudenken.
Jetzt bräuchte es nur noch jemanden, der diese Verteilungsdebatte nicht nur anmahnt, sondern auch strukturiert und moderiert. Hendrik Streeck, so viel wissen wir jetzt, hat sich dafür nicht empfohlen.
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