KOMMENTAR | Monoklonale Antikörper sind heute vielfach Therapiestandard. Jetzt wurden zwei Präparate gegen Alzheimer zugelassen. Wie gut sie helfen, ist noch unklar. Was jedoch klar ist: Das wird sich kaum jemand leisten können.
Am Laboratory of Molecular Biology im britischen Cambridge hatten der junge Postdoc George Köhler und sein Chef César Milstein Mitte der 1970er Jahre eine geniale Idee: Sie immunisierten Mäuse mit einer Zielsubstanz, gegen die sie Antikörper herstellen wollten. Aus der Milz der Maus gewannen sie B-Zellen, die sie mit unsterblichen Myelom-Zellen fusionierten. Diesen Myelomzellen – und das war der geniale Trick – fehlte ein Stoffwechselenzym. In normalem Nährmedium können solche speziellen Myelomzellen nur überleben, wenn sie mit intakten Zellen verschmelzen und neue Zelle bilden, die dann sowohl unsterblich sind als auch Antikörper gegen die Zielsubstanz produzieren. Nun muss man aus einzelnen, neuen Zellen nur noch Klone heranziehen und die „monoklonalen Antikörper“ aus dem Nährmedium abschöpfen. Fertig.
Seitdem ist es möglich, ein nahezu beliebiges Molekül in Mäuse zu spritzen und aus deren B-Zellen Klone zu gewinnen, die unbegrenzt einen einzigen, spezifischen Antikörper produzieren. Bittere Fußnote: Trotz der möglichen Bedeutung für die Medizin sicherten sich nicht Köhler und Milstein, die später für ihre Tat immerhin den Nobelpreis bekamen, sondern US-Forscher die entscheidenden Patente. Es dauerte zwar noch einige Zeit, bis die monoklonalen Antikörper so weit getrimmt waren, dass sie sich mit dem menschlichen Immunsystem vertrugen. Heute aber sind sie begehrte Arzneimittel, erkennbar am Namensende „-mab“ für „monoclonal antibody“. So empfiehlt allein die aktuelle Leitlinie „Therapie der Psoriasis vulgaris“ 11 verschiedene -mab-Präparate.
Jetzt erobern monoklonale Antikörper auch die Volkskrankheiten: Mit Lecanemab von Biogen/Eisai und Donanemab von Eli Lilly sind in Deutschland seit kurzem zwei Alzheimer-Präparate zugelassen. Ein hart erkämpfter Triumph, der Blessuren hinterließ. Schon vor 13 Jahren scheiterte in Phase-III ein Kandidat von Pfizer, später enttäuschten auch die Antikörper von Eli Lilly, Roche und Morphosys. Am weitesten kam Aducanumab von Biogen. Nachdem eine reguläre Zulassung in den USA wegen zweifelhafter Wirkung zunächst nicht zum Erfolg geführt hatte, schaffte es das Mittel 2021 schließlich mit einem beschleunigten Verfahren doch noch auf den Markt. Eine Untersuchung des Kongresses ließ jedoch keine rechte Freude aufkommen. Der Bericht enthüllte auffällig enge Beziehungen zwischen Biogen und der FDA und belegte, dass Biogen mehrere Milliarden Dollar für Marketing auszugeben bereit war, um die Zweifel am Nutzen ihres Mittels zu zerstreuen. Dazu kam es aber nicht. 2024 nahm der Hersteller den einstigen Hoffnungsträger wieder vom Markt.
Ist dieser holprige Anfang nun überwunden und eine echte Therapie verfügbar? Klare Antwort: nein. Die beiden Präparate binden an Amyloid-Plaques im Gehirn und entfernen sie auch. Damit ist die Krankheit aber nicht geheilt und neurologische Ausfälle bleiben. Im knapp 70 Seiten starken Arzneimittel-Fokus der TK zu Amyloid-Antikörpern vergleicht Daniel Press, Neurologe von der Harvard Medical School, die Alzheimer-Krankheit mit einem Auto, das einen Hügel hinunterfährt: „Sie halten das Auto nicht an. Das Auto fährt nicht wieder den Hügel hinauf. Aber sie verlangsamen es. Und der Grund, warum wir als Fachgebiet so aufgeregt sind, ist, dass wir zum ersten Mal entdecken, dass es im Auto ein Bremspedal gibt.“
Der konkrete Nutzen für die Patienten besteht darin, das Fortschreiten der Demenz um ein paar Monate aufzuhalten, oder, wie Josef Hecken vom G-BA sagt, „geringfügig zu verlangsamen“. Und auch dieser Nutzen ist nicht wirklich gewiss. Der Plaque-Schwund gilt als Surrogatparameter, der lediglich in wahrscheinlichem Zusammenhang mit der Neurodegeneration steht. Der in den Zulassungsstudien ermittelte Vorteil beim Erhalt der geistigen Fähigkeiten nach 18 Monaten war zwar statistisch signifikant, aber er lag bei Lecanemab um mehr als das 3-fache unterhalb der Schwelle zur klinischen Relevanz. Auch bei Donanemab lag er darunter. Ob und wie weit Menschen am Ende spürbar von den Mitteln profitieren, ist also offen.
Auch sonst wirken die Mittel wie Popstars, die mit dem Treppenlift auf die Bühne gehievt werden müssen: Lecanemab und Donanemab kommen nur für Patienten mit einer erst beginnenden, noch nicht manifesten Alzheimer-Demenz in Frage. Sie führen zu schweren Nebenwirkungen wie Ödemen und Mikroblutungen, die unter dem Begriff asymptomatische Amyloid-assoziierte Bildgebungsanomalien, kurz ARIA, zusammengefasst werden. Bei der Mehrzahl der Alzheimer-Patienten könnten diese so gravierend sein, dass eine Therapie für sie nicht in Frage kommt. Die ungeeigneten Patienten auszusortieren, ist aufwändig: Mindeststandard ist eine ausführliche neurologische Begutachtung, eine MRT, eine ApoE4-Genotypisierung und eine PET-Aufnahme oder Lumbalpunktion zum Plaque-Nachweis.
Staffelt man die Untersuchungen, wird der Kreis der Kandidaten immerhin von Schritt zu Schritt kleiner, so dass nicht alle Alzheimer-Patienten wirklich alle Untersuchungen bekommen müssen. Von den 1,3 Millionen Patienten pro Jahr bleiben am Ende nach Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung noch 73.000 Personen übrig, die mit den beiden Antikörpern behandelt werden können. Lecanemab wird alle zwei Wochen per Infusion verabreicht, Donanemab alle vier Wochen. Wie lange die Therapie dauern soll, ist zumindest bei Lecanemab noch unklar. Zur Überwachung der Therapie soll laut Hersteller ein MRT bei der 3., 5., 7. und 14. Infusion sicherstellen, dass ARIAs rechtzeitig erkannt werden.
Am meisten Sorgen machen den Neurologen die nötigen Kapazitäten, und zwar für alle Stadien der Behandlung, also für die Auswahlprozedur, das Monitoring während der Infusion und die Nachsorge – und nicht zu vergessen die psychologische Betreuung der abgelehnten Patienten, die, ihrer Hoffnung auf Behandlung beraubt, womöglich in eine Lebenskrise stürzen. Die nötige Infrastruktur für alle diese Maßnahmen kann nicht von heute auf morgen aus dem Boden gestampft werden.
„An diesem Flaschenhals wird eine Selektion erfolgen, die zu Einschränkungen in der Versorgung führen werden“, sagt Andreas Rhode, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie beim Medizinischen Dienst. „Dafür muss man Lösungen finden.“ Denn schon jetzt platzen die Praxen aus allen Nähten, und Facharzttermine sind nur schwer zu kriegen. Der zitierte Flaschenhals wird auch eine Klientel hervorbringen, deren psychologische Betreuung besonders herausfordernd werden dürfte: Patienten, die in Frage gekommen wären, aber während des Wartens auf einen Termin beim Neurologen eine zu weit fortgeschrittene Demenz entwickelt haben.
Aber gesetzt den Fall, eine unerwartete Neurologenschwemme würde die Kapazitätsprobleme lösen, blieben noch die schieren Kosten. Noch ist nicht ausgemacht, wie teuer die beiden Präparate werden. In den USA kostet eine Jahresbehandlung 26.500 Dollar, der Hersteller hält 37.600 Dollar für angemessen. 25.000 Euro pro Jahr ist also für Deutschland eher eine konservative Schätzung. Bei 73.000 Patienten würden demnach – ohne Auswahl, Überwachung und Nachsorge – allein die Arzneimittel pro Jahr mit gut 1,8 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Im vergangenen Jahr gaben die gesetzlichen Krankenkassen 1,6 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr für Arzneimittel aus. Die beiden Alzheimer-Mittel würden den Mehrbedarf also locker verdoppeln.
Dabei ächzt das Gesundheitssystem schon jetzt unter stetig steigenden Kosten, Milliardenlöcher tun sich bei den Krankenkassen auf. Einen „Herbst der Hilflosigkeit“ prophezeit DAK-Chef Andreas Storm im Ärzteblatt. Die „tiefgreifenden Reformen“, die Bundesgesundheitsministerin Nina Warken anmahnt, können wohl kaum so tiefgreifend sein, dass medizinischer Fortschritt, Vergreisung der Gesellschaft und Maximalversorgung gemeinsam das System nicht in die Knie zwängen.
Bislang konnten echte Rationierungen verhindert werden. Aber wie lange noch? In Großbritannien werden die beiden Alzheimer-Antikörper von öffentlichen Gesundheitswesen nicht bezahlt, dem sie gemessen am Nutzen schlicht zu teuer sind. Wenn hierzulande die kostspieligen Biologika jetzt auch die Volkskrankheiten erreichen, dürften alle Kostendämme brechen. Das Geld für die Biologika müsste an anderer Stelle eingespart werden. Dann würde der Fortschritt in der Spitze am Ende die Versorgung in der Breite womöglich sogar verschlechtern.
Dabei ist bei den beiden Alzheimer-Medikamenten ja sogar zweifelhaft, wie medizinisch sinnvoll sie wirklich sind. Trotzdem gibt es Stimmen, die trotz des zweifelhaften Nutzens und des womöglich systemsprengenden logistischen und finanziellen Aufwands die Zulassung unterstützen. „Und dennoch müssen wir diesen Weg gehen“, sagt etwa Josef Hecken. „Medizinischer Fortschritt erfolgt in kleinen Schritten und braucht kontinuierliche Forschung, neue Impulse und Zeit.“ Siehe Krebstherapien und Multiple Sklerose, wo kleine Schritte in der Summe letztlich zu effektiven Therapien geführt haben. Für Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sind die Antikörper „ein Proof of Principle“, und deshalb „ein wichtiger Fortschritt“.
Vielleicht soll ja auch die Pharmaindustrie mit der Zulassung bei Forschungslaune gehalten werden, auf dass sie eines Tages wirklich einen Gamechanger finden möge? Ein Kommentator in The Lancet ist da skeptisch: Die eigentlichen Fortschritte würden in kleinen Firmen gemacht, die großen hätten ihre Stärken bei den klinischen Studien und der Produktion. Erlaubt sei auch der Vergleich, was man mit zwei Milliarden Euro noch anfangen könnte. Etwa Schwimmbäder finanzieren. Das Beispiel kommt nicht von ungefähr –schließlich kann Sport den geistigen Abbau erwiesenermaßen verlangsamen. Schon 3.000 Schritte am Tag bewirken laut einer prospektiven, in Nature Medicine veröffentlichten Studie, dass sich Tau-Proteinklumpen nicht so schnell in Gehirnzellen ansammeln. Auch Alkohol- und Rauchverzicht sowie gesunde Ernährung tragen ihren Teil dazu bei. Deshalb soll auch allen abgewiesenen Alzheimer-Patienten mit Präventionsmaßnahmen eine Alternative zu den Antikörpern angeboten werden.
Aber warum eigentlich nur ihnen? Wäre es nicht sinnvoll, das Ausschöpfen aller präventiven Maßnahmen zur Bedingung für die Versorgung mit den teuren Mitteln zu machen? Laut darüber nachgedacht hat zumindest schon Peter Berlit im TK-Report: Man könne „im Einzelfall diskutieren, ob man von Personen, die diese Antikörper bekommen sollen oder wollen, verlangen kann, dass sie auch wirklich alles, was präventiv getan werden kann, auch wirklich tun“. Er wäre „zurückhaltend“, wenn zum Beispiel jemand raucht und seinen Diabetes und Fettstoffwechsel schleifen lässt. Allerdings rudert Berlit gleich wieder zurück: „Das wird aber nicht in den Best Practice-Kriterien stehen.“
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