Landen Jugendliche mit starkem Erbrechen in der Notaufnahme, sind nicht zwingend Alkohol oder Infekte schuld – sondern immer häufiger Cannabis. Welche überraschenden Gründe der Anstieg hat, lest ihr hier.
Was oft als vermeintlich harmloses Freizeitvergnügen beginnt, kann bei regelmäßigem Konsum schwerwiegende Folgen haben: Immer mehr Jugendliche landen mit heftigem Erbrechen in der Notaufnahme, ausgelöst durch chronischen Cannabis-Konsum. Dahinter steckt das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom (CHS). Betroffene entwickeln plötzliche, teils unstillbare Brechattacken, begleitet von Übelkeit, Bauchschmerzen und einem auffälligen Verhalten: Sie suchen Erleichterung durch heißes Duschen oder Baden. Was einst als seltenes Krankheitsbild galt, tritt immer häufiger auf.
Eine Arbeitsgruppe vom Boston Children’s Hospital hat die bislang umfassendste Analyse zu diesem Phänomen bei Jugendlichen durchgeführt. Für ihre in JAMA Network Open veröffentlichte Studie haben die Wissenschaftler Daten von Notaufnahmen von 48 US-Kinderkrankenhäusern zwischen 2016 und 2023 ausgewertet. Insgesamt identifizierten Michael Toce und Kollegen 4.571 Fälle von CHS bei 13- bis 21-Jährigen. Von ihnen waren rund zwei Drittel weiblich, das Durchschnittsalter lag bei 17 Jahren. Über 90 Prozent lebten in urbanen oder suburbanen Regionen.
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen konnte nach Stabilisierung und Aufklärung über den Zusammenhang zwischen Konsum und Symptomatik direkt aus der Notaufnahme entlassen werden. Etwa 40 Prozent mussten jedoch stationär aufgenommen werden, meist zur Überwachung und symptomorientierten Therapie; weniger als 1 Prozent musste auf der Intensivstation überwacht werden.
Die Zahl der Fälle in Notaufnahmen stieg laut Analyse jährlich um knapp 49 Prozent – von 160 Fällen pro Million Patienten im Jahr 2016 auf fast 2.000 pro Million im Jahr 2023. Diese Entwicklung gilt als deutlicher Hinweis auf die zunehmende Verbreitung und Intensität des Cannabiskonsums bei Jugendlichen. Daten aus Deutschland gibt es bislang nicht. Das macht die Studie wichtig, um zumindest Trends abzuschätzen – auch hinsichtlich der Teil-Legalisierung und ihren Folgen. Bemerkenswert ist, dass der Trend sowohl in US-Bundesstaaten mit legalisiertem Cannabis zu Genusszwecken (Recreational Cannabis Legalization, RCL) als auch in Staaten ohne Legalisierung zu beobachten war. In Staaten mit RCL fanden die Autoren durchschnittlich 1.909 Fälle pro Million Patienten in Notaufnahmen, in Staaten ohne Legalisierung 834 Fälle pro Million. Der Anstieg verlief in beiden Gruppen deutlich, wenn auch mit unterschiedlicher Dynamik: In RCL-Staaten nahmen die Fälle um rund 32 Prozent pro Jahr zu, in nicht legalisierten Staaten sogar um fast 50 Prozent.
Sieben Bundesstaaten änderten während des Studienzeitraums ihre Gesetze und führten eine Legalisierung ein. Dies bot den Forschern die seltene Gelegenheit, Entwicklungen im Zeitverlauf zu vergleichen. Auch hier zeigte sich: Selbst vor der Gesetzesänderung gingen die Fallzahlen nach oben. Daraus, so die Autoren, lasse sich ableiten, dass die Gesetzeslage allein nicht der entscheidende Faktor für die Dynamik beim CHS sei. Vielmehr scheine der gesellschaftliche Wandel rund um Cannabis, seine zunehmende Akzeptanz und seine leichtere Verfügbarkeit insgesamt das Konsumverhalten zu prägen – eine wichtige Erkenntnis, gerade für Deutschland.
Obwohl das CHS schon länger bekannt ist, haben Ärzte den Mechanismus nicht komplett entschlüsselt. Doch es gibt Hypothesen: Eine chronische, meist starke THC-Exposition scheint die Balance des Endocannabinoid-Systems zu kippen. Wissenschaftler vermuten, dass u. a. eine Desensitisierung von Cannabinoid-Rezeptoren 1 (CB1-Rezeptoren) im Darm/Hirnstamm (paradoxer Pro-Emesis-Effekt), Störungen der Magen-Darm-Motilität sowie eine Beteiligung des TRPV1-Systems, bekannt als Hitze- bzw. Capsaicin-Rezeptor, eine Rolle spielen.
Das könnte auch die Linderung durch heiße Duschen und Capsaicin erklären. Eine TRPV1-Aktivierung durch Hitze oder Capsaicin kann Signale der Substanz P modulieren. Die Substanz P ist ein Neuropeptid, das an der Erregung des Brechzentrums beteiligt ist. Die effektivste Intervention ist aber der vollständige Verzicht auf Cannabis. Antiemetika zeigen meist geringe Wirkung, und auch Flüssigkeitszufuhr und Beruhigungsmittel helfen nur symptomatisch.
Nicht jeder Patient mit CHS wird gleich erkannt. Im Gegenteil: Viele Betroffene werden zunächst wegen vermeintlicher Magen-Darm-Infekte oder psychogener Ursachen behandelt. Erst wenn alle anderen Ursachen ausgeschlossen sind und eine Cannabis-Anamnese erhoben wird, ergibt sich das Bild des CHS.
Typisch sind in der Anamnese heiße Bäder, die Betroffenen oft als kurzfristige Maßnahme dienen sowie die rasche Besserung nach Abstinenz. Für Ärzte in Notaufnahmen und Praxen gilt daher: Frühzeitige Aufklärung und konsequente Diagnostik können unnötige Behandlungen und Krankenhausaufenthalte vermeiden.
Ein Fazit: Das CHS steht exemplarisch für die Ambivalenz der gesellschaftlichen Neubewertung von Cannabis. Während Legalisierung und medizinische Nutzung weltweit voranschreiten, mehren sich klinische Hinweise auf neue Risiken, vor allem bei Jugendlichen. Die US-Autoren fordern deshalb mehr Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen intensiven Cannabiskonsums – auch in Ländern, in denen die Legalisierung erst am Anfang steht. Und Ärzte wiederum sollten bei starkem, unklarem Erbrechen in Zeiten der zunehmenden Verbreitung von Cannabis auch an das CHS denken. Es handelt sich schon lange nicht mehr um ein Randphänomen.
Die Studie auf einen Blick
Bildquelle: Midjourney