KOMMENTAR | Einige Patienten stellen Ärzte vor besonders große Herausforderungen. Ganz vorne mit dabei: Der COPD-Patient, der weiter raucht. Warum mich der Umgang meiner Kollegen mit solchen Fällen aus dem Beruf getrieben hat.
Die Autorin ist der Redaktion bekannt und möchte anonym bleiben.
Ich bin Ärztin – und ich habe meine Klinik-Karriere beendet, bevor sie wirklich angefangen hat. Diese Entscheidung hatte viele Gründe. Einer davon: Zynismus. Schon nach wenigen Monaten in der Akutversorgung klopfte er als ungebetener Gast an meine Tür, drängte sich in mein Leben und begann, mich zu verändern. Eine Veränderung, die mir nicht gefallen hat. Bei einem beträchtlichen Teil meiner Kollegen war der Zynismus offensichtlich schon vor längerem eingezogen, hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und kommentierte sarkastisch das Treiben in der Klinik. Bei manch einem ließ sich sogar ein wenig Stolz auf ebenjene zynische Art beobachten. Sie gilt im Krankenhaus als professioneller Abwehrschild und wird sozial akzeptiert – oder sogar belohnt: Wer zynisch ist, hält tapfer aus und gilt als stark.
Gründe für Zynismus gibt es im Gesundheitssystem viele. Doch besonders lautstark machte er sich bei mir bemerkbar, wenn ich mit Patienten konfrontiert war, die, sagen wir mal, nicht ganz unschuldig an ihrer Lage waren. Ich denke ihr wisst, welchen Typus ich meine: Den Patienten mit 50 Pack-Years, der dieses Jahr schon dreimal mit COPD-Exazerbation stationär behandelt wurde. Der sich aber trotzdem nicht von seinen Zigaretten trennen möchte, obwohl sein Vater an Lungenkrebs gestorben ist und die Mutter nach mehreren Schlaganfällen ein Pflegefall ist. Beide ebenfalls Raucher. Die Patienten, bei denen man bei der Entlassung innerlich schon darüber Wetten abschließt, wann sie das nächste Mal auf Station landen. Die Patienten, bei denen man noch so viel Zeit und Mühe in Aufklärung stecken kann, bei denen die Therapieempfehlungen aber trotzdem zum einen Ohr rein- und aus dem anderen wieder rauszugehen scheinen.
Im medizinischen Kontext beschreibt Zynismus meist eine emotionale Schutzreaktion: Ärzte und anderes Fachpersonal stumpfen durch Stress, Überforderung oder Enttäuschung ab und beginnen, Patienten oder ihre Arbeit mit einer gewissen Distanz oder Bitterkeit zu betrachten.
Auf andere Zynismusquellen wie Arbeitsbedingungen, Personalmangel und starre Strukturen lässt es sich viel besser wütend sein als auf diejenigen, denen man eigentlich helfen möchte, es aber nicht kann. Ich denke, dass die meisten jungen Ärzte mit einer Art Idealismus ins Berufsleben starten. So auch ich. Zwar war ich von älteren Kollegen bereits gut über die Missstände informiert worden und hatte unzählige Geschichten über nervige, „uneinsichtige Patienten“ (s. Infobox) gehört. Trotzdem dominierten in meinem Kopf positive und hoffnungsvolle Gedanken: Vielleicht kann ich diese Patienten ja erreichen, wenn ich ihnen nur gut zuhöre und mir Zeit nehme, ihnen ihre Krankheit zu erklären. Ich wollte es anders machen als die Kollegen, die aus meiner Sicht allzu oft hoffnungslos aufgaben und „uneinsichtige Patienten“ ihrem Schicksal überließen.
An dieser Stelle ist ein kurzer Einschub nötig: Der Begriff „uneinsichtiger Patient“, der im klinischen Sprachgebrauch durchaus genutzt wird, entspringt einer paternalistischen Sicht auf den Patienten, ist unnötig wertend und sagt letztlich mehr über die Hilflosigkeit des Arztes aus, als über den Patienten. Korrekter wäre „Patient mit geringer Änderungsbereitschaft“ oder „Patient mit geringer Krankheitseinsicht“ – beides Begriffe, die leider eher hinderlich für den Lesefluss sind. Daher bleibe ich in diesem Text bei „uneinsichtig“ in Anführungsstrichen.
Retrospektiv erscheint mir meine Zuversicht reichlich naiv. Ich habe schnell gelernt, dass es genau diese „uneinsichtigen Patienten“ sind, die regelmäßig den größten medizinischen Aufwand mit sich bringen und zeitliche und nervliche Kapazitäten von allen beteiligten Kollegen binden. Der COPD-Patient, der weiter raucht, ist dabei schon fast zur Metapher geworden für ärztliche Bemühungen, die wieder und wieder ins Leere laufen. Und damit ist es eben nicht nur die Patienten-Gesundheit, die unter dem Verhalten leidet, sondern auch die Laune und Gesundheit des Personals, andere Patienten, die im Vergleich zu kurz kommen – und nicht zuletzt mein Idealismus.
Der ist sehr schnell mit der Realität auf Station kollidiert. Plötzlich konnte ich die Reaktionen meiner Kollegen verstehen, gleichzeitig hat es mich unglaublich wütend gemacht, dass diese zynische Haltung als eine Art Lösung verkauft wurde. Wie eine gute Lösung fühlte sich das für mich in keinem Moment an – weil sie aus mir eine Person gemacht hat, die ich nicht sein wollte.
Was mir besonders schwergefallen ist: Ich habe die Entscheidung der Patienten, entgegen meinen Handlungsempfehlungen zu rauchen, ihre Medikamente nicht zu nehmen etc., persönlich genommen. Rational gesehen ist mir klar, dass das Quatsch ist. Rauchen ist eine Sucht. Die daraus resultierenden Erkrankungen werden gerne als „selbstverschuldet“ bezeichnet. Aber selten ist jemand „einfach selbst schuld“. Es ist viel komplexer. Ich weiß nicht, wie eine Person aufgewachsen ist, aus welchen Gründen sie angefangen hat zu rauchen oder mit welchen Schwierigkeiten sie im Alltag zu kämpfen hat – gestützt durch die eine oder andere Zigarette. Aber ich gehe davon aus, dass kein einziger Patient einfach nur weiter raucht, um seinen Arzt zu ärgern und es ihm mal so richtig zu zeigen.
Trotzdem hatte ich oft das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, mit meinen Argumentationen ins Leere zu laufen und Zeit verschwendet zu haben. Zeit, die ich gerne mit Freunden oder zu Hause auf dem Sofa verbracht hätte. Und so entstand aus Idealismus in besorgniserregender Geschwindigkeit Frust. Da waren plötzlich Gedanken wie „Warum sollte ich mir Mühe geben, wenn der Patient es nicht will?“ und Situationen, in denen ich innerlich mit den Schultern gezuckt habe, obwohl ich eigentlich Mitgefühl spüren wollte. Stets begleitet von Schuldgefühlen, denn das sind schließlich Gedanken, die ich als Ärztin – dem Bild der Gesellschaft folgend – nicht haben sollte. Aber wenn ich für den Patienten Verantwortung übernehme, wäre es nicht das Mindeste, dass der Patient auch einen Teil dieser Verantwortung trägt? Menschen machen Fehler, das ist klar und verständlich. Aber es fühlt sich nicht gut an, Tag für Tag die Folgen dieser Fehler in Form von steigender Arbeitslast und Überstunden zu tragen.
Immer wieder frage ich mich: Wie kann man mit diesen Situationen umgehen, ohne zynisch zu werden und ohne selbst darunter zu leiden? Wie bewahrt man Empathie, ohne dabei auszubrennen? Wie kann man Idealismus erhalten, ohne naiv zu sein? Es gibt verschiedene Abgrenzungsstrategien, von professioneller Distanz, Austausch mit Kollegen und Humor bis hin zum Zynismus – der, wenn man nicht aufpasst, zu einer gefährlichen Gleichgültigkeit werden kann. Wie eingangs erwähnt, arbeite ich mittlerweile nicht mehr in der direkten Patientenversorgung – mein Zynismusproblem hat sich damit in Luft aufgelöst. Aber für alle, die ihre Zukunft im Krankenhaus oder in der Praxis sehen, wünsche ich mir Lösungen und Strategien, mit diesen herausfordernden Emotionen umzugehen.
Ein wichtiger Schritt ist, denke ich, die Erwartungshaltung anzupassen. Man kann einfach nicht jeden retten. Und so weh es tut: Man kann nur jenen helfen, die Hilfe wollen. Die ärztliche Aufgabe ist erst einmal nur, informiert zu beraten. Dabei riskiert man schnell, in eine Art Erziehungsversuch zu rutschen. Diese Grenze sollte man sich bewusst machen: Ich habe meinen Teil getan – der Rest liegt nicht in meiner Hand. Das Erleben von Frust ist auch ein Zeichen von Empathie. Das zu erkennen, kann zu einer positiveren Haltung führen: Ich bin frustriert, weil mir der Patient wichtig ist und ich mir ein besseres Ergebnis für ihn wünsche.
Ein häufig gehörter Ratschlag ist zudem, das eigene Mindset anzupassen und sich auf die Momente zu fokussieren, in denen man wirklich jemandem helfen konnte. Doch das alles erfordert Ausdauer, Energie und Geduld. Es bedeutet nämlich, bei jeder Situation, die in die alte Frust-Kerbe schlägt, aktiv einen Schritt zurückzutreten, den spontanen emotionalen Impuls erst einmal wahrzunehmen und in die Schublade „kann ich nicht ändern, ich fokussiere mich auf andere Dinge“ einzusortieren. Vielleicht gelingt es dann irgendwann, den COPD-Patienten, der weiter raucht, nicht als Provokation zu sehen, sondern als Spiegel dafür, wie komplex menschliches Verhalten ist. Und wie begrenzt unser Einfluss bleibt, egal wie gut wir es meinen.
Doch all diese Taktiken wirken nur symptomatisch und auf individueller Ebene. Oft frage ich mich, ob der neuralgische Punkt „uneinsichtiger Patient“ vielleicht weniger belastend und schmerzhaft wäre, wenn sich grundlegende Dinge ändern und sich die Arbeitsbedingungen bessern. Das würde nämlich bedeuten: weniger Zeitdruck, mehr Möglichkeiten, den Patienten gerecht zu werden, mehr Gelegenheit zur persönlichen Fort- und Weiterbildung und weit mehr emotionale Kapazitäten – und eine längere Zündschnur. Dann reicht eine einzelne Zigarette vielleicht nicht mehr aus, um eine innere Explosion auszulösen.
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