KOMMENTAR | Die sechsjährige Sophia stirbt im OP – nicht, weil Narkosen gefährlich sind, sondern weil der Anästhesist einen Fehler macht. Warum es problematisch ist, wenn Kollegen der Perfektionsdruck fehlt.
In der ARD läuft aktuell eine Doku mit dem sehr reißerischen Titel „Tod nach Narkose“. Das muss heutzutage so sein, sonst klickt – Pardon, schaut das ja niemand mehr an. Ich gebe es zu, ich habe schon bei dem Titel Blutdruck bekommen. Weil ich so eine Vorahnung hatte, in welche Richtung das läuft. Aber der Reihe nach. Sophia ist 6 Jahre alt und muss an den Backenzähnen behandelt werden. Aufgrund großer Angst wird eine Behandlung in Narkose empfohlen. Der zuständige Narkosearzt soll die Narkose beendet und sich aus dem Zimmer entfernt haben.
Er sei durch eine Mitarbeiterin informiert worden, dass etwas mit dem Kind nicht in Ordnung sei – da war Sophia bereits tot. Und in meinem Kopf ist da erstmal lange nichts. Ich sitze dann da mit offenem Mund und habe SO VIELE Fragen. Wieso verlässt man den Raum, wenn man eine Narkose ausleitet? So etwas passiert ja nicht auf einmal. In der Fliegerei nennt man das Complacency. Das sind Fälle von sehr erfahrenen Piloten, die nach tausenden Flugstunden völlig banale Fehler machen, wegen derer sie abstürzen. Sie sind zu selbstsicher. Sie verlassen Standards, lassen Checklisten weg. Wer sowas macht, macht das nicht zum ersten Mal. Nur irgendwann ist eben das erste Mal, dass es nicht gut ausgeht.
Ein anderer Fall – ebenfalls eine ambulante Narkose bei einer zahnärztlichen Behandlung. Eine ansonsten gesunde 63-jährige Patientin kann vom Narkosearzt nicht beatmet werden, da das 50 Jahre alte (!) Narkosegerät einen Defekt hat. Der Narkosearzt hat keinen Plan B, wird hektisch und versucht die tief narkotisierte Ute Z. mit Ohrfeigen aufzuwecken. MIT OHRFEIGEN – ja, ungefähr so habe ich auch geguckt. Nichts bringt die Überforderung und Hilflosigkeit besser auf den Punkt als dieser resignierende Aktionismus.
Mich macht sowas richtig wütend. Ich habe einen sehr hohen Anspruch an meinen Beruf, und solche Kollegen ziehen das ganze Berufsbild in den Dreck. Menschen haben Angst vor Narkose. Anästhesie – das ist und bleibt die große Unbekannte. Irgendwie so eine Art Blackbox und niemand weiß so richtig, was da passiert. Man vertraut sich, sein Leben oder gar das Leben der eigenen Kinder einem fremden Menschen an. Die Narkose versetzt einen dann in einen Zustand, der ohne die direkte Hilfe dieses Menschen nicht überlebt werden kann. Das ist tatsächlich so. Würde man nur Narkose spritzen und sonst nichts tun, kein Sauerstoff geben, keine Beatmung – man wäre nach wenigen Minuten tot. Die Medikamente bewirken, dass nach wenigen Sekunden die Atmung aufhört. Ohne Atmung kein Sauerstoff, ohne Sauerstoff keine Herzaktion, ohne Herzaktion kein Kreislauf, ohne Kreislauf kein Leben.
Damit das nicht passiert, sind wir da. Fachärzte für Anästhesie – nach einem jahrelangen Studium und jahrelanger Ausbildung. Ich habe die Anästhesisten schon als junger Medizinstudent gefeiert, weil das die waren, die im Chaos den Überblick hatten. Egal wie schlimm es um einen Patienten stand – wenn die Anästhesie um die Ecke kam, hatten die einen Plan. Genau genommen hatten die einen Plan C, Plan D und Plan E – während ich noch nicht mal wusste, dass es einen Plan B gibt. Das hat mich tief beeindruckt und sowas wollte ich auch machen. Anästhesie bedeutet 100 % Perfektion. Die Anästhesie, die Sicherung des Atemwegs, die Stabilisierung des Kreislaufs, die postoperative Schmerztherapie – alles muss zu 100 % funktionieren. Ein Abweichen von diesen 100 % bedeutet im besten Fall nur ein bisschen Halsschmerzen, Unwohlsein oder Übelkeit für die Patienten. Im schlechtesten Fall aber den sicheren Tod.
Entsprechend werden Anästhesisten vom ersten Tag auf Perfektion gedrillt. Checklisten, Skilltraining, Simulationstraining – noch mehr Checklisten. All das, um die 100 %-Marke niemals zu verfehlen. Der jahrelange Drill zur Perfektion hat mich verändert. Ich dulde kein nachlässiges oder halbherziges Arbeiten am oder mit Patienten. Wir haben sehr viel Verantwortung und ich erwarte von allen Mitarbeitern in unserer Anästhesie, dass sie sich dessen jederzeit bewusst sind. Anderen Fachabteilungen gehen wir mit dieser Perfektion manchmal ziemlich auf die Nüsse – das können wir sehr gut.
Ich erwarte von Weiterbildungsärzten nicht, dass sie das von Anfang an können. Aber ich erwarte, dass sie an sich arbeiten. Dass sie einen Plan B entwickeln, damit sie ihn abrufen können, wenn sie ihn brauchen und nicht erst dann entwickeln, wenn sie ihn schon bräuchten. Dafür muss man auch was investieren. Zeit, und auch Geld (für Fortbildungen) und es ist auch mal stressig oder unbequem in Skill- oder Simulationstrainings zu gehen, in denen man an die eigenen Grenzen geführt wird. Aber das sind wir unseren Patienten schuldig.
Und dann kommt da diese Doku – und das, was ich da sehe, ist so meilenweit von unserer täglichen Praxis entfernt, dass es mich fassungslos macht. Wie kann es sowas in Deutschland geben? Jede Pommesbude wird regelmäßig kontrolliert, aber ambulante Narkosen sind weitgehend wilder Westen. Es wird auf die Selbstkontrolle vertraut. Stichwort Eigenverantwortung oder so – hat ja auch bei Corona schon super geklappt. Und auch wenn ich hier gerne was anderes schreiben würde, aber die Reportage hat in einem Punkt recht – wir haben ein Problem mit ambulanter Anästhesie. Im letzten Jahr haben uns zwei Kollegen mit sehr flacher Lernkurve verlassen müssen. Es war klar, dass es für sie hier nach dem Facharzt auf der Karriereleiter nicht weiter gehen würde. Zu unzuverlässig in der selbstständigen Arbeit, zu selbstsicher bei teils erheblichen fachlichen Defiziten.
Von einer Facharztprüfung darf man nicht zu viel erwarten, die schaffen auch solche Leute. Na ja und was soll ich sagen – beide sind jetzt in der ambulanten Anästhesie. Der eine in einer Praxis, der andere selbstständig als eine Art reisender Narkosearzt. Heute hier, morgen da. Und zwischendurch ein bisschen Notarzt fahren (aber das ist ein anderes Thema). Und es klingt auch verlockend: Keine Dienste mehr in der Klinik, am Wochenende frei, an Feiertagen frei, meist sogar ein Dienstwagen und eine oft gute Bezahlung. Außerdem schaut einem niemand auf die Finger. Kein nerviger Chefarzt, kein Oberarzt, man kann einfach sein Ding machen und hat Ruhe.
Ich will das auf keinen Fall verallgemeinern, es gibt ganz viele hervorragende Kollegen, die ambulante Anästhesie machen! Gleichzeitig besteht ein enormer Kostendruck. Die Praxen versuchen überall zu sparen, vor allem an moderner und deshalb teurer technischer Ausstattung und der Vorhaltung von Notfallausrüstung, die selten bis nie genutzt wird.
Ich habe in Praxen Narkosegeräte gesehen, die vor 20 Jahren bei uns aus der Klinik entfernt wurden, weil es vom Hersteller keine Ersatzteile mehr gab. Ich habe dann gefragt, wie sie das machen, wenn mal was kaputtgeht. Mir wurde gesagt, sie ersetzen das teilweise mit Bauteilen anderer Modelle, die dafür gar nicht zugelassen sind. Weil sie nicht 100 % passen oder eine andere Leistungsklasse haben usw. Da muss man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen! So ein Narkosegerät ist ja kein altes Mofa von Hercules, an das man mal einen Blinker von der Simson draufschrauben kann. Alternative Bauteile sind dafür überhaupt nicht zugelassen – aber es interessiert niemanden, weil es auch niemand kontrolliert.
Mich macht die Berichterstattung wütend, weil dadurch ein falscher Eindruck entsteht. Der Titel müsste lauten: „Tod nach unsachgemäßer Behandlung durch hohen Kostendruck, veraltete Geräte aufgrund fehlender Investitionen, mehrfachen Verstoß gegen geltende Standards und fehlende Kontrollen“.
Sowas ist kein Narkoseschaden. Die Narkose kann nichts dafür. Narkose in den richtigen Händen ist extrem sicher. Wenn man in einem Wohnwagen auf der Autobahn den Tempomat anmacht und dann nach hinten geht und sich einen Kaffee kocht, dann darf man sich nicht wundern, wenn man einen Unfall baut. Daran ist dann aber nicht der Wohnwagen schuld, sondern der Depp, der das Wohnmobil eigentlich lenken sollte. Es sind gleichermaßen die Leute, die so handeln, Teil des Problems sowie das System, das sie nicht kontrolliert und die Entstehung solcher Verhältnisse begünstigt.
Ich gehe 100 % konform mit den zu Wort kommenden Experten – keiner dieser Patienten wäre gestorben, wenn sich die behandelnde Person an die Standards gehalten hätte. Und sich an die Standards zu halten, sollte selbstverständlich sein. Da es das für manche schwarze Schafe jedoch nicht ist, werden zwingend vermehrte Kontrollen benötigt. Auch und gerade zum Schutz all derer, die jeden Tag sehr zuverlässig und auf höchstem Niveau ambulante Anästhesien durchführen!
Ergänzung vom 08.11.2025 vom Narkosedoc
Vielen Dank für die vielen konstruktiven Kommentare zu dem Artikel!Es gab einige Diskussionen zu dem Begriff der „Parallelnarkose“.Beim Zeitstempel 05:20 Minuten der Reportage werden die Vorgänge geschildert. Dort heißt es wörtlich: „In einem entscheidenden Moment, bei der Beendigung der Narkose, war der Arzt nicht im Behandlungszimmer, weil er gerade Beratungsgespräche mit anderen Patienten für weitere Narkosen führt.“
In der Folge der Stellungnahme des Bundesgerichtshofs wird dann zwar von Parallelnarkosen gesprochen, aber das geschilderte Vorgehen selbst ist keine Parallelnarkose. Inhaltlich – was das schuldhafte Vergehen angeht – ist es aber wie eine Parallelnarkose zu werten.
Als Parallelnarkose bezeichnet man eigentlich die gleichzeitige Überwachung und Durchführung von mehreren Narkosen durch einen einzelnen Anästhesisten, meist an benachbarten Operationstischen oder in unmittelbar verbundenen Räumen. Der Vergleich zu Parallelnarkose wurde vom Gutachter möglicherweise deswegen gezogen, weil er dem Gericht und Laien die Tragweite des Fehlverhaltens greifbar machen muss.
Es gibt eine sogenannte Münsteraner Erklärung, welche unter anderem notwendig wurde, weil profitfokussierte Kliniken aus Kostengründen vonm Standard „1 Patient = 1 Anästhesist“ weg wollten. Es gab da Modelle, in denen in jedem Saal eine Pflegekraft oder ATA sitzt und mehrere OP-Säle von einem Arzt überwacht werden sollten. Und damals wurde eben festgelegt: Ja, manche Sachen kann man delegieren (an jemand anderen, der dann daneben sitzt!!!), aber während kritischer Phasen der Anästhesie (z. B. explizit genannt Einleitung und Ausleitung) muss ein Anästhesist anwesend sein. Dabei spielt es fast keine Rolle, was der Anästhesist parallel macht – ob er eine Narkose macht oder, wie in dem Fall, so etwas wie ein Aufklärungsgespräch.
Das Fehlverhalten des Anästhesisten aus dem geschilderten Fall ist damit genau das, was von BGH und Münsteraner Erklärung klar untersagt wurde – ohne, dass dort nochmal andere Tätigkeiten explizit aufgelistet worden wären. Das wäre so, als wenn der Anästhesist während der Narkose raus geht und seine Autoreifen wechselt und man das „inhaltlich wie eine Parallelnarkose“ wertet. Man kann ja nicht jede Tätigkeit einzeln aufführen. Letztlich ist es ein unerlaubtes Entfernen vom Anästhesiearbeitsplatz aus nichtigen Gründen (kein Notfall) während einer besonders kritischen Phase der Anästhesie.
Korrekt wäre vielleicht statt des Begriffs Parallelnarkose, dass er zur Ökonomiesierung der Abläufe (oder aus anderen, nichtigen Gründen) parallel nicht dringliche und sogar zeitlich aufschiebbare ärztliche Tätigkeiten durchgeführt hat. Eine „Parallelnarkose“ im eigentlichen Sinne ist das aber nicht.
Aber auch hier gilt: Lasst euch nicht im Kleinklein zerreiben. Das lenkt vom eigentlichen Problem ab. Es geht auch nicht um den Einzelfall. Es geht um ein System, was solche Entwicklungen fördert und möglich macht. Da ist das Problem, nicht in der Begriffsdefintion.Danke an alle Rückmeldungen! Narkosedoc
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