Spontanremission: Dahinter können Infektionen, Immunreaktionen oder Stoffwechseleffekte stecken – und Hinweise für neue Wege der Krebstherapie. Eine Spurensuche.
Für Eilige gibt’s am Ende eine Zusammenfassung.
Der Begriff Spontanremission bezeichnet das teilweise oder vollständige Verschwinden eines bösartigen, histologisch gesicherten Tumors ohne onkologische Therapie. Nach einer vielzitierten älteren Analyse tritt dieses Ereignis nur bei etwa einem von 60.000 bis 100.000 Krebs-Patienten auf. Meist handelt es sich um Patienten mit Neuroblastom, Nierenzellkarzinom, malignem Melanom und Lymphom bzw. Leukämien.
In der bislang umfassendsten Übersicht zu diesem Thema analysierten die Autoren insgesamt 390 weltweit dokumentierte Fälle einer spontanen Regression gastrointestinaler Tumoren aus den Jahren 1926 bis 2021. Etwa die Hälfte (193 von 390 Fällen, rund 49,5 %) betraf ein hepatozelluläres Karzinom (HCC). Karzinome insgesamt machten 74 % aller Fälle aus, gefolgt von Lymphomen (17 %) und neuroendokrinen Tumoren (3 %). Die zentrale Frage: Wie kommt es zur Spontanremission?
Credit: Gudapureddy Radha et al.: The spontaneous remission of cancer: Current insights and therapeutic significance. Review Transl Oncol. 2021. doi: 10.1016/j.tranon.2021.101166, CC-BY-NC-N.
Eine der plausibelsten Erklärungen ist die plötzliche Aktivierung unseres Immunsystems durch Infektionen, Fieber oder Entzündungsreaktionen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts machte der New Yorker Chirurg William B. Coley eine bemerkenswerte Beobachtung: Nachdem sich bei einem Sarkom-Patienten im Anschluss an eine bakterielle Infektion eine deutliche Tumorrückbildung gezeigt hatte, begann Coley, gezielt bakterielle Extrakte zu injizieren, um ähnliche Reaktionen hervorzurufen. Seine sogenannten Coley’s Toxins lösten in zahlreichen Fällen hohes Fieber und anschließend Tumorregressionen aus. Sein Ansatz legte den Grundstein für eine therapeutische Idee, die Jahrzehnte später Anwendung fand. Bis heute wird das abgeschwächte Tuberkulosebakterium Bacillus Calmette-Guérin (BCG) erfolgreich zur Behandlung nicht-muskelinvasiver Harnblasenkarzinome eingesetzt.
Auch die Idee, Viren gezielt zur Tumorbekämpfung zu nutzen, geht auf Beobachtungen spontaner Rückbildungen nach Virusinfektionen zurück. Die daraus entwickelte Onkolyse-Therapie hat mit Talimogene Laherparepvec (T-VEC), einem genetisch veränderten Herpesvirus, bereits den Weg in die klinische Praxis gefunden, um bestimmte Formen des malignen Melanoms zu therapieren.
Die Möglichkeiten sind damit längst nicht ausgeschöpft. In einer 2023 veröffentlichten Analyse haben Ärzte 16 Fälle dokumentiert, in denen sich Krebserkrankungen nach einer COVID-19-Infektion oder -Impfung unerwartet zurückgebildet haben. 14 Fälle traten nach einer Virusinfektion und zwei nach einer SARS-CoV-2-Impfung auf. Weitere Hinweise auf diese Verbindung zwischen Immunstimulation und Tumorkontrolle liefert eine Analyse. Demnach lebten Patienten mit fortgeschrittenem Lungen- oder Hautkrebs signifikant länger, wenn sie innerhalb von 100 Tagen vor oder nach Beginn einer Behandlung mit Immuncheckpoint-Inhibitoren (ICI) eine COVID-19-mRNA-Impfung bekommen haben. In Tumoren, die ursprünglich kaum auf ICIs reagieren, führte diese Kombination zu einer gesteigerten Expression von PD-L1 – einem zentralen Angriffspunkt der Therapie.
Auch die Tumormikroumgebung, also das komplexe Zusammenspiel von Blutgefäßen, Immunzellen, Bindegewebe und Signalstoffen rund um das Tumorgewebe, scheint eine Rolle zu spielen. So können Biopsien oder OPs den Stoffwechsel und die Durchblutung des Tumors stören. In manchen Fällen scheint dies so weit zu gehen, dass Tumorzellen in die Apoptose getrieben werden. Darüber hinaus deuten Beobachtungen darauf hin, dass auch spontane Nekrosen, also das Absterben von Tumorgewebe infolge von Sauerstoffmangel oder systemischen Entzündungsreaktionen, eine Rolle spielen. Beide Prozesse – Apoptose und Nekrose – führen letztlich dazu, dass die Versorgung des Tumors abrupt abbricht und seine Struktur kollabiert.
Doch nicht nur lokale Veränderungen oder Durchblutungsstörungen stehen im Verdacht, Tumoren buchstäblich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zunehmend rücken übergeordnete Stoffwechselprozesse in den Fokus der Forschung. Eine seit 2024 diskutierte Hypothese besagt, dass eine verminderte Phosphatzufuhr Tumorzellen in eine Art „Rückbau-Modus“ versetzt. Dadurch verringern sie ihren Energieverbrauch drastisch, was zur Remission führen könnte, vermuten Wissenschaftler.
So faszinierend die Berichte über Spontanremissionen auch sind: Sie bleiben Ausnahmen. Die wissenschaftliche Datenlage ist äußerst dünn und stützt sich fast ausschließlich auf einzelne Fallberichte oder kleine Fallserien, meist ohne langfristige Nachbeobachtung. Hinzu kommt ein erheblicher Publikationsbias: Meist veröffentlichen Ärzte nur spektakuläre Fälle. Systematisch werden die Phänomene bislang nicht erfasst. Trotz all dieser Einschränkungen besitzen Spontanremissionen einen hohen wissenschaftlichen Wert. Sie bestätigen, dass der menschliche Organismus grundsätzlich in der Lage ist, maligne Zellen zu erkennen und Tumoren zu kontrollieren – eine wissenschaftliche Basis für neue Therapien.
Das Wichtigste auf einen Blick
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