Hochverarbeitete Lebensmittel finden immer selbstverständlicher Platz auf unserem Speiseplan. Doch ihre Zusammensetzung wird schnell zum Verhängnis: Etwa einer von acht Menschen ist abhängig. Zeit, Fakten zu servieren.
Mehr als jeder achte Erwachsene im Alter von 50 bis 80 Jahren ist süchtig nach hochverarbeiteten Lebensmitteln. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Abhängige Personen sind öfter übergewichtig, sozial isoliert und leiden vermehrt unter psychischen Belastungen. Das berichten Forscher der Universität Michigan in einer aktuellen Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift Addiction veröffentlicht wurde.
Die heutige Ernährungsumgebung ist stark von industriell hergestellten Lebensmitteln geprägt. In hochentwickelten Industrieländern stammen inzwischen über 60 Prozent der täglichen Energiezufuhr aus hochverarbeiteten Fertigprodukten (Ultra-Processed Foods, UPF) – Spitzenreiter sind die USA.
Durch die Zugabe von Aromen, Geschmacksverstärkern und Süßstoffen wurden die Fertigprodukte in den letzten 60 Jahren immer schmackhafter und verführerischer. Gleichzeitig wurde das Mundgefühl der Produkte durch technologische Prozesse verfeinert und optimiert. Fertigprodukte zeichnen sich heute durch ihre weiche, cremige und zugleich vollmundige Konsistenz aus. Darüber hinaus bestechen sie durch ihre fluffigen, knusprigen und zart-schmelzenden Eigenschaften. Die meisten UPFs sind so konzipiert, dass sie durch die geschickte Kombination isolierter und modifizierter Zutaten sowie künstlicher Zusatzstoffe, in Verbindung mit einer ausgeklügelten technologischen Verarbeitung, den Genusspunkt optimieren, um auf diese Weise gezielt das Glücksnetzwerk im Gehirn zu aktivieren und neu zu verschalten. Die stark belohnende Natur von industriellen Phantasieprodukten kann so suchtähnliche Mechanismen auslösen, die die Neigung zu zwanghaftem Essverhalten verstärken.
In der explorativen Analyse untersuchten die Forscher die Prävalenz der UPF-Sucht (UPFA) unter Berücksichtigung verschiedener sozio-demografischer Merkmale und zahlreicher Gesundheitsparameter in einer für die USA landesweit repräsentativen Stichprobe. Grundlage bildete eine im Juli 2022 durchgeführte telefonische Befragung des Institute for Healthcare Policy and Innovation der Universität Michigan bei insgesamt 2.038 Teilnehmern. Analysiert wurde die alters- und geschlechtsspezifische Prävalenz der UPFA für die Kohorte der 50–64-Jährigen sowie für die Kohorte der über 65-Jährigen. Darüber hinaus wurde die Abhängigkeit der UPFA von verschiedenen Variablen des körperlichen, mentalen und sozialen Zustands der Probanden untersucht. Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Variablen wurden mit Hilfe der Poisson-Regression ermittelt.
Die Abhängigkeit von UPFs wurde mit Hilfe der modifizierten Yale Food Addiction Scale 2.0 (mYFAS) erfasst. Die mYFAS 2.0 ist ein validiertes Instrument mit 13 Fragen zur Erfassung suchtähnlicher Reaktionen auf hochverarbeitete Lebensmittel, das die aktuellen diagnostischen Kriterien für Substanzgebrauchsstörungen widerspiegelt. Der Fragebogen bewertet die Häufigkeit von Verhaltensweisen wie z. B. starkes Verlangen, Heißhunger, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung sowie fortgesetzten Konsum trotz negativer Folgen beim Verzehr von UPFs, wie z. B. Schokolade, Chips, Eiscreme, Süßigkeiten, Pommes frites und Pizza. Probanden mit unvollständig ausgefüllten Fragebögen wurden von der Analyse ausgeschlossen.
Die repräsentative Stichprobe umfasste insgesamt 2.038 Teilnehmer (49,4 % davon entfielen auf die Altersgruppe der 50–64-Jährigen, 50,6 % auf die Altersgruppe der 65–80-Jährigen). Das Durchschnittsalter der Probanden war 63,6 Jahre. Der Anteil der Frauen betrug 51,2 %, knapp 70 % der Teilnehmer waren weiß. Bei 45,7 % der Befragten lag das Haushaltseinkommen unter 60.000 Dollar, einen Bachelor-Abschluss hatten 35,2 % der Teilnehmer.
Die adjustierte Gesamtprävalenz der UPF-Sucht betrug 12,4 %, d. h. jeder achte ältere Erwachsene erfüllte die Kriterien für eine ausgeprägte Sucht nach ultraprozessierten Fertigprodukten. Mit anderen Worten: Jeder Achte isst nicht aus Hunger, sondern aus Zwang. Übertragen auf die deutsche Bevölkerung der über 50-Jährigen entspräche das etwa 5 Mio. Esssüchtigen. Frauen waren mit 16,9 % mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer (7,5 %). Frauen zeigten darüber hinaus auch deutlich stärkere Ausprägungen charakteristischer Symptome von UPFA (starkes Verlangen, Heißhunger, Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung sowie fortgesetzten Konsum trotz negativer Folgen beim Verzehr von UPFs) sowie größere psycho-emotionale Belastungen und funktionelle Beeinträchtigungen im Alltag.
Sowohl bei Männern als auch bei Frauen war die Lebensmittelsucht in der Altersgruppe 50–64 Jahre ausgeprägter als in der Gruppe der 65–80-Jährigen (p < 0.001). Frauen in der jüngeren Altersgruppe hatten mit 21 % die höchste UPFA-Prävalenz. Für Frauen mit Gehältern unter 30.000 Dollar war die UPFA stärker ausgeprägt als für solche mit höheren Einkommen (p < 0.05); bei Männern war die UPFA unabhängig vom Einkommen. Die Lebensmittelsucht war bei allen Studienteilnehmern negativ mit dem körperlichen (p < 0.01), mentalen (p < 0.001) und sozialen Wohlbefinden assoziiert (p < 0.001), bei Männern tendenziell stärker als bei Frauen. Für hohes Übergewicht (Adipositas) zeigte sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen ein starker statistischer Zusammenhang mit der UPFA (p < 0.001). Das Risiko adipöser Männer, eine UPFA zu entwickeln, war um den Faktor 19,14 höher als bei normalgewichtigen Männern. Bei adipösen Frauen betrug der Risikofaktor 11,44 im Vergleich zu normalgewichtigen Frauen.
Der Siegeszug der Fertigprodukte vollzog sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Erwachsenen von heute waren damals Kinder, Teenager, Jugendliche oder Menschen am Beginn ihres Berufs- und Familienlebens. Damit ist die beobachtete Probandenpopulation die erste Generation, die ihre frühen Lebensjahre in einer von UPFs dominierten Ernährungsumgebung verbracht hat. Die Forscher der Universität Michigan vermuten, dass der frühe und intensive Kontakt der Generation X mit der Fülle und Vielfalt an Fertigprodukten ihr heutiges Konsum- und Suchtverhalten hinsichtlich ultraprozessierter Fertigprodukte nachhaltig beeinflusst hat.
Diese Hypothese steht in Einklang mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen (hier und hier), die gezeigt haben, dass die Exposition gegenüber suchterzeugenden Substanzen in jungen Jahren das Risiko für Suchterkrankungen im Erwachsenenalter erhöht. Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Sucht nach UPFs nachfolgender Generationen (Y, Millennials, Z und Alpha) entwickeln wird, die erstmals ihr gesamtes Leben in einer dickmachenden Ernährungsumgebung verbracht haben werden.
In einer großen Metaanalyse auf Basis von 272 Einzelstudien konnte bereits früher gezeigt werden, dass Lebensmittelsucht mit einer geringeren Ernährungsqualität, Übergewicht, Adipositas, Typ-2-Diabetes und verschiedenen psychischen Erkrankungen assoziiert ist. Die ermittelte Gesamtprävalenz der UPFA betrug damals 14 %. Auch experimentelle Untersuchungen an Ratten legen nahe, dass ein definiertes Verhältnis von raffinierten Kohlenhydraten und gehärteten Fetten die Tiere süchtig macht. Um an Chips und Schokolade zu kommen, riskieren sie sogar einen elektrischen Schlag. Wenn sie die Wahl zwischen einer Zucker- und einer Kokainlösung haben, entscheiden sich die meisten Nager für Zucker. Diese Befunde rücken UPFs in die Nähe von anderen Suchtmitteln.
Ratten sind mit dem Drang nach stark verarbeiteten Fertigprodukten nicht allein: Adipöse Menschen mit Schwierigkeiten, ihr Essverhalten zu steuern, tun etwas ganz Ähnliches. Sie unterziehen sich bewusst riskanten operativen Eingriffen wie beispielsweise einer Magenverkleinerung oder einer Bypassoperation. Trotzdem greifen viele von ihnen danach weiterhin zu hochverarbeiteten Lebensmitteln, die in einem bestimmten Verhältnis aus Weißmehl, Zucker und Fett hergestellt werden – auch wenn dies bedeutet, dass sie sich danach übergeben müssen oder Durchfall bekommen. Menschen verlieren nicht die Kontrolle bei Gemüse, Hülsenfrüchten, Kartoffeln oder Vollkornprodukten, sie fahren aber mitten in der Nacht zur Tankstelle, um sich mit Süßigkeiten und Softdrinks einzudecken.
Kevin D. Hall gelang 2019 als erstem der wissenschaftliche Nachweis, dass hochverarbeitete Lebensmittel zu einer vermehrten Kalorienaufnahme führen. Dazu teilte er 20 Probanden in zwei Ernährungsregime ein. Die eine Hälfte der Teilnehmer erhielt eine Diät, die ausschließlich aus ultraprozessierten Fertigprodukten bestand, die andere Hälfte erhielt eine hinsichtlich Fett-, Eiweiß-, Kohlenhydrat-, Salz- und Ballaststoffgehalt identische naturbelassene Kostform. Beide Gruppen konnten so viel essen, wie sie wollten. Nach zwei Wochen tauschten die beiden Gruppen ihren Speiseplan. Dabei stellte sich heraus: Die Probanden in der Interventionsgruppe konsumierten täglich etwa 500 kcal mehr und nahmen fast ein Kilogramm zu. Im Kern bedeutet das: Man isst, weil es gut schmeckt, Spaß macht oder man emotional belohnt wird, nicht aufgrund eines tatsächlichen Hungergefühls oder physiologischen Bedarfs.
Das Essen aus Freude, Genuss oder Drang wird auch als hedonisches Essen bezeichnet. Es wird vornehmlich durch Gerüche, Anblick oder Erinnerungen hervorgerufen und aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn (Freisetzung von Dopamin). Hedonisches Essen wird typischerweise durch süße, fettige, salzige oder besonders schmackhafte Fertigprodukte ausgelöst. Die Ergebnisse von Hall et al. konnten mittlerweile von zwei weiteren Arbeitsgruppen bestätigt werden (hier und hier).
Die Stärken der Querschnittstudie liegen zum einen in der Repräsentativität und Größe der Stichprobe, die es erstmals erlaubte, mögliche Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Sucht nach ultraprozessierten Lebensmitteln zu untersuchen. Die Aussagekraft der Ergebnisse ist jedoch durch das Design der Untersuchung eingeschränkt, da der beobachtende Charakter der Momentaufnahme keine kausalen Zusammenhänge zulässt.
Hinzu kommt, dass die Befragung während der Covid-19-Pandemie stattfand, einer Zeit, in der sich viele ältere Erwachsene über längere Zeiträume hinweg isolierten, um gesundheitliche Risiken zu vermeiden. Dies könnte die Angaben zur Häufigkeit der sozialen Einbindung sowie zur körperlichen und psychischen Gesundheit beeinflusst haben. Zudem ist bekannt, dass während der Isolation der Konsum von UPFs, insbesondere von Süßigkeiten und Schokolade, deutlich zugenommen hat, während die körperliche Aktivität stark zurückging. Dementsprechend könnten auch die Gewichtsangaben verzerrt sein. Schließlich basieren alle Daten auf Selbstauskünften, deren Validität aufgrund des Erinnerungsbias als eingeschränkt gelten.
Die Entwicklung wirksamer UPFA-Therapien läuft auf Hochtouren. Erste Hinweise deuten darauf hin, dass Medikamente, die zur Behandlung von Drogenabhängigkeit wie Naltrexon und Bupropion verwendet werden, auch bei Lebensmittelabhängigkeit helfen könnten. Neuere Medikamente wie die Appetitzügler Liraglutid, Semaglutid und Tirzepatid, die das Verlangen nach Nahrung eindämmen, zeigen ebenfalls erste vielversprechende Ergebnisse. Die rezeptpflichtigen Arzneimittel sind allerdings nicht ohne Nebenwirkungen und müssen nach vorläufigen Erkenntnissen lebenslang eingenommen werden. Langzeitstudien stehen noch aus.
Preiswerter und nachhaltiger wären aber vermutlich präventiv wirksame ordnungs- und finanzpolitische Maßnahmen, wie z. B. ein Werbeverbot für ungesunde Fertigprodukte, eine verbraucherfreundliche Lebensmittelkennzeichnung nach dem Beispiel Chiles, die Einführung einer Zuckersteuer auf stark gesüßte Speisen, Süßigkeiten und Softdrinks sowie die Freistellung von der Mehrwertsteuer für naturbelassene Grundnahrungsmittel wie z. B. Obst, Gemüse, Kartoffeln, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Nüsse, Fleisch, Fisch, Geflügel, Eier und Milch, so wie es zahlreiche medizinische Fachgesellschaften und Verbraucherschutzorganisationen schon seit Jahren fordern.
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