Bittere Gefahr aus der Scharlatanküche: Seit über 50 Jahren kursiert die Mär, Aprikosenkerne könnten Krebs heilen. Faktisch falsch – und potenziell lebensgefährlich.
Schon seit vielen Jahren werden bittere Aprikosenkerne von Scharlatanen jeglicher Art als Heilmittel oder gar Prävention gegen Krebs verkauft. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern schlicht gefährlich. Hier wird mit der Not von Menschen gespielt. Nicht nur, dass diese Kerne keinen nachweisbaren Einfluss auf Linderung oder gar Heilung eines Krebsleidens haben, eine zu große verzehrte Menge kann dem Körper im Gegenteil sogar Leid antun. Woher kommt dieser Irrglaube, dass bittere Aprikosenkerne der Gesundheit zuträglich sein können?
Bittere Aprikosenkerne enthalten einen Stoff, der den klangvollen Namen Amygdalin trägt. Den Stoff umweht in vielen Schilderungen im Internet ein Hauch von Rebellentum. Das Wissen darüber soll demnach von der Pharmaindustrie unterdrückt werden, da sich damit kein Geld verdienen lässt. All das ist hanebüchener Unfug.
Gleich mal vorneweg: Amygdalin ist kein Vitamin! Die Fantasiebezeichnung „Vitamin B17“ wurde dem Amygdalin fälschlicherweise zugeschrieben und hält sich seitdem hartnäckig. Die Definition von Vitaminen besagt, dass Vitamine lebenswichtige Stoffe darstellen, die überwiegend nicht selbst vom Körper gebildet werden. Wir müssen sie also über die Nahrung aufnehmen. Und hier kommen wir schon zum entscheidenden Punkt, denn: Amygdalin ist nicht lebensnotwendig, es ist kein Vitamin und es kann daher keinen Mangel im Körper geben. Sie können auch ohne die Aufnahme von Amygdalin ein wundervolles und gesundes Leben führen.
Um den zweiten Punkt zu entkräften, müssen wir ein wenig mehr ins Detail gehen. Schlucken Sie Amygdalin, zum Beispiel in Aprikosenkernen, wird dieses Amygdalin in einem ersten Schritt durch das Enzym Glucosidase zuerst in Prunasin und dann durch ein anderes Enzym in Mandelonitril umgewandelt. Beide Zwischenprodukte sollen uns nicht weiter interessieren. Wichtig für uns ist allerdings, dass im Laufe der weiteren Umwandlung von Mandelonitril als Endprodukt unter anderem Cyanid entsteht. Und ein anderer Name für das Cyanid ist (sehr grob vereinfacht) Blausäure. Zum Glück gibt es in unserem Körper das Enzym Rhodanase. Rhodanase wandelt Cyanid in Thiocyanat um, was dann in unserem Urin gelöst und ausgeschieden wird.
Diejenigen Menschen, die Aprikosenkerne als Heilmittel gegen Krebs propagieren, argumentieren dies mit einer unterschiedlichen Enzymausstattung in Krebszellen. Demnach soll in Krebszellen entweder durch die Aufnahme von Amygdalin mehr Blausäure gebildet werden – oder Blausäure soll in diesen Zellen prinzipiell schlechter abgebaut werden. Die Konsequenz wäre dann, dass die Blausäure so zum bevorzugten Tod von Krebszellen führt. So schön es sich auch anhört, das ist leider schlichtweg eine Mär. Wir alle wissen zwar, dass Krebszellen in vielerlei Hinsicht entartet sind (sonst wären es ja keine Krebszellen). Allerdings gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die Enzymausstattung in Krebszellen derart abgeändert ist, dass dies spezifisch auf die Blausäure wirkt.
Auch wissenschaftliche Studien, welche direkt untersucht haben, ob Amygdalin gegen Krebs hilft, zeigen keine eindeutig belegbare Wirkung. Zwar hat eine Studie aus dem Jahre 1978 Indizien für eine leichte krebshemmende Wirkung (keine Heilung) bei krebskranken Mäusen erahnen lassen, aber diese Ergebnisse waren widersprüchlich und alles andere als eindeutig. Eine Wiederholung dieser Studie hat diese leichte Wirkung dann auch nicht bestätigen können. Auch weitere Studien an Tieren zeigten keine eindeutigen belegbaren antitumoralen Wirkungen. Teilweise waren leichte Effekte zu erahnen, meist aber nicht. Anhand dieser Versuche muss man also feststellen: Ein nachweisbarer Effekt auf die Tumoren, wie es von jedem Krebsmedikament für die Zulassung auf dem Arzneimittelmarkt bewiesen werden muss, besteht nicht. Des Weiteren konnte in verschiedenen Studien keine vollständige Heilung festgestellt werden. Ein Nutzen von Amygdalin in der Krebstherapie konnte also nie wirklich belegt werden.
Vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren wurden dann auch Tests an Menschen durchgeführt. Diese Ergebnisse, die in der Tumorbehandlung mit Menschen erzielt wurden, komplettieren das Bild der Tierversuche. Immer mal wieder kommt es zu einer einzelnen positiven Nachricht hinsichtlich Tumorwachstum oder Metastasierung. Alles in allem scheinen dies aber Einzelfälle zu sein, die eher zufällig als aufgrund der Therapie auftreten. Die überwiegende Mehrheit der Probanden zeigte keine positiven Reaktionen auf die Amygdalin-Gabe.
Und bevor Sie jetzt sagen: „Na, dann probieren wir es doch einfach – besser die Chance auf einen kleinen Nutzen als gar kein Nutzen“, muss ich Sie leider enttäuschen. Das Risiko, sich durch bittere Aprikosenkerne bzw. das enthaltende Amygdalin zu schädigen, ist immens. Cyanid greift direkt in die Atmungskette in den Mitochondrien ein. Eines der essenziellen Kettenglieder dieser Atmungskette ist die Cytochrom-c-Oxidase, die als eines ihrer Bestandteile ein positiv geladenes Eisen-Teilchen innehat. Und an dieses positiv geladene Eisen-Teilchen bindet das Cyanid und blockiert damit die gesamte Arbeit der Cytochrom-c-Oxidase. Die Atmungskette kann nicht weiter ablaufen. Und damit geht Ihrer Zelle die Energie aus – überall, nicht nur spezifisch in Tumorzellen. Dieser Vorgang wird auch inneres Ersticken genannt.
Das alles ist leider keine Theorie von abgehobenen Wissenschaftlern aus dem Elfenbeinturm. Todesfälle aufgrund einer Blausäurevergiftung sind in der Literatur vielfach beschrieben (hier, hier und hier).
Als Fazit kann ich Ihnen daher mitgeben: Es gibt keinen Beweis dafür, dass Aprikosenkerne bei Krebsleiden helfen. Die Datenlage spricht sogar eher dagegen. Die Gefahr, dass Sie sich beim Verzehr von Aprikosenkernen selbst schaden, ist hingegen durchaus vorhanden und keineswegs das Risiko wert, diesem nicht bewiesenen hypothetischen Nutzen eine Chance zu geben.
Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Prävention und IntegrativeOnkologie (PRIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft zu VitaminB17 (Amygdalin), 2024. Online
Haisman et al.: The Enzymic Hydrolysis of Amygdalin. Biochem J, 1967. doi: 10.1042/bj1020528
Cipollone et al.: Cyanide detoxification by recombinant bacterial rhodanese. Chemosphere, 2006. doi: 10.1016/j.chemosphere.2005.09.048
Stock et al.: Antitumor tests of amygdalin in spontaneous animal tumor systems. J Surg Oncol, 1978. doi: 10.1002/jso.2930100203
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