Präzise, früh und individuell steuerbar: Was früher nur im MRT sichtbar war, lässt sich heute schon im Blut erkennen. Welche drei Biomarker die Diagnostik der MS auf ein neues Level heben.
Lange Zeit stützte sich die Diagnostik und Verlaufsbeurteilung der Multiplen Sklerose (MS) nahezu ausschließlich auf klinische Kriterien und Bildgebung. Doch mit der rasanten Entwicklung hochsensitiver Proteinanalyseverfahren bahnt sich eine Revolution an. Blut- und Liquor-Biomarker, insbesondere das Neurofilament light chain (NfL), das gliale Fibrilläre saure Protein (GFAP) und das Chitinase 3-like 1 Protein (CHI3L1), rücken zunehmend ins Zentrum des klinischen Interesses. Eine aktuelle Übersichtsarbeit in The Lancet Neurology fasst den Forschungsstand dieser Biomarker zusammen und zeigt ihre wachsende Bedeutung für die klinische Anwendung auf.
NfL ist ein strukturelles Protein des Axons, das bei neuronaler Schädigung in den Liquor und ins Blut übertritt. Zahlreiche Studien zeigen, dass erhöhte NfL-Konzentrationen nicht nur akute Schübe widerspiegeln, sondern bereits Jahre vor dem ersten klinischen Ereignis messbar sind. Bei Personen mit radiologisch isoliertem Syndrom (RIS) oder klinisch isoliertem Syndrom (CIS) können erhöhte NfL-Werte auf ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer klinisch manifesten MS hinweisen. In der Praxis erlaubt NfL damit eine engmaschigere Beurteilung subklinischer Krankheitsaktivität und könnte künftig das MRT ergänzen.
Während NfL also vorrangig akute axonale Schädigungen widerspiegelt, korreliert GFAP, ein Astrozytenprotein, stärker mit der neurodegenerativen Komponente der Erkrankung. Besonders bei progredienten Verlaufsformen steigen die GFAP-Werte unabhängig von der Schubaktivität an. Patienten mit hohen GFAP-Spiegeln zeigen häufiger eine schleichende Behinderungsprogression („progression independent of relapse activity“, PIRA). Damit könnte GFAP künftig helfen, aktive und nicht aktive sekundär progrediente Verläufe zu unterscheiden und die Therapie individuell anzupassen.
Auch CHI3L1, ein von Astrozyten und Immunzellen freigesetztes Glykoprotein, wird als Marker für chronische Entzündung und Gewebeumbauprozesse diskutiert. Hohe CHI3L1-Spiegel im Liquor korrelieren mit langsam expandierenden Läsionen und erhöhter Behinderung. Insbesondere in Kombination mit NfL und GFAP könnte CHI3L1 zur besseren Stadieneinteilung beitragen.
Bislang sind Liquoranalysen der Goldstandard der MS-Diagnostik. Doch ultrasensitive Verfahren wie die Single-Molecule Array Technologie (Simoa) ermöglichen mittlerweile auch präzise Messungen im Serum. So kann die wiederholte Verlaufsbeurteilung erheblich erleichtert werden. Regelmäßige NfL-Bestimmungen könnten beispielsweise helfen, Schubaktivität oder therapiebedingte Krankheitsberuhigung objektiv zu quantifizieren. Erste Daten deuten darauf hin, dass ein 3- bis 6-monatiges Messintervall für die Praxis sinnvoll sein könnte.
Nach Beginn der Immuntherapie ist der Verlauf der NfL-Konzentration zu betrachten: Ein Absinken gilt als Indikator für Therapieansprechen, während erneute Anstiege auf Krankheitsaktivität hinweisen. Besonders unter hochwirksamen Therapien wie Ocrelizumab oder Sphingosin-1-Phosphat (S1P)-Rezeptor-Modulatoren (Fingolimod u. a.) korreliert der Rückgang der NfL-Werte mit reduziertem MRT-Läsionsaufkommen. Bei Therapieabbrüchen oder Dosisreduktionen können Anstiege von NfL oder GFAP ein Warnsignal für bevorstehende Schübe oder Progression darstellen.
Die Kombination mehrerer Biomarker verspricht ein umfassendes Bild der Krankheitsdynamik: von akuter Entzündung bis hin zu glialer und axonaler Degeneration. In Zukunft könnten standardisierte Serumtests ihren Eingang in die Routinediagnostik finden und die MS-Therapie in Richtung Präzisionsmedizin lenken. Womit das Ziel, Krankheitsaktivität und -progression objektiv zu quantifizieren und Therapien individuell zu steuern, in greifbare Nähe rückt.
Die Ära der Biomarker markiert einen Paradigmenwechsel in der MS-Diagnostik und -Therapie. NfL, GFAP und CHI3L1 stehen stellvertretend für einen Wandel hin zu einer personalisierten, datenbasierten Medizin, die nicht nur Schübe erkennt, sondern den gesamten Verlauf der Erkrankung in bisher unerreichter Auflösung abbildet und somit eine individuelle Therapieoptimierung ermöglichen kann.
Chitnis et al.: Blood and CSF biomarkers in multiple sclerosis. The Lancet Neurology, 2025. doi: 10.1016/S1474-4422(25)00249-2 External Link
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