Die Empfehlungsstärke in Leitlinien ist relativ klar geregelt. Bei den zugehörigen Verben von anbieten bis verabreichen jedoch geht es wild durcheinander. Das kann verwirrend sein. Eine Stilkritik.
Die Empfehlungen sind das Herzstück von Leitlinien, denn in ihnen steckt die Essenz der wissenschaftlichen Aufarbeitung von medizinischen Fragestellungen. Wirklich hilfreich sind die Empfehlungen jedoch nur dann, wenn sie „spezifisch und eindeutig“ formuliert sind. So fordert es die Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften AWMF. Als Empfehlungsgrade lässt sie Leitlinienautoren die Wahl zwischen dem dreistufigen soll/sollte/kann-Schema und dem zweistufigen wir empfehlen/wir schlagen vor-Schema nach GRADE. Zu den dazugehörigen Verben aber schweigt sich die AWMF aus.
So gibt es weder eine Liste empfohlener Verben, noch Vorgaben, ob und wie der jeweilige Akteur, der Kontext und die Art der Handlung beschrieben werden sollen: Als Akteur kommen die Leitlinienautoren oder die adressierten Ärzte infrage, als Kontext das Arzt-Patientengespräch oder die meist diagnostische oder therapeutische Handlung des Arztes und als Art der Handlung das Delegieren oder Selbstmachen.
Man bekommt mitunter den Eindruck, dass die Verben beim Formulieren der Empfehlungen eher intuitiv nach Sprachgefühl als überlegt und mit System verwendet werden. So kommen beispielsweise in der S3-Leitlinie „Nicht-spezifische Nackenschmerzen“ unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), neben dem soll/sollte/kann-Schema zehn verschiedene Verben zum Einsatz. Nicht immer ist klar, was gemeint ist. Das führt zu Interpretationsspielraum und damit zwangsläufig zu Missverständnissen – die man bei Leitlinien-Empfehlungen eigentlich vermeiden sollte.
Die in der Leitlinie verwendetet Verben lassen sich in zwei große Gruppen einteilen. Die eine Gruppe mit angeboten, empfohlen und verordnet zielt eher auf das Arzt-Patienten-Gespräch ab, wobei in dieser Reihe die Mitsprache der Patienten abnimmt. Der Satz „Manipulation/Mobilisation kann […] angeboten werden“ ist eher unverbindlich formuliert und scheint die Entscheidung dem Patienten zu überlassen. Dagegen klingt der Satz „Kognitive Verhaltenstherapie kann […] empfohlen werden“ schon verbindlicher, deutet allerdings noch ein Arzt-Patienten-Gespräch an – vorausgesetzt jedoch, die handelnde Person ist überhaupt der Arzt. Diese Formulierung könnte man nämlich auch so verstehen, dass die Leitlinienautoren handeln, indem sie die kognitive Verhaltenstherapie empfehlen. Von der Einbeziehung des Patienten ist im Satz „Bewegungstherapie kann […] verordnet werden“ dann gar keine Rede mehr.
Die Leitlinienautoren suggerieren hier also mit der Verwendung unterschiedlicher Verben, dass die Patienten in die Entscheidung unterschiedlich intensiv eingebunden werden sollen. War das Absicht? Falls ja, wie wäre diese Abstufung begründet? Es handelt sich ja in allen drei Fällen um kann-Empfehlungen, sie stehen also nach Evidenzlage auf einer Stufe. Falls nein, nähmen die Leitlinienautoren unbewusst – und etwas fahrlässig, wie ich finde – in Kauf, dass auch Ärzte beim Befolgen der Empfehlungen diese Abstufung übernehmen, und deshalb die Mobilisation tatsächlich nur anbieten, die Bewegungstherapie jedoch einfach verordnen.
In die zweite große Gruppe fallen die Verben, die medizinische Handlungen des Arztes beschreiben. Hier finden sich in der Nackenschmerz-Leitlinie berücksichtigt, überprüft, eingeleitet, durchgeführt, verabreicht, gegeben und eingesetzt. So heißt es etwa: „Akupunktur kann […] eingesetzt werden.“ Wie beim verordnet spielt die Meinung des Patienten auch hier offenbar keine Rolle. Allerdings delegiert der Arzt die Handlung nicht, sondern macht es selbst – was nichts anderes heißt, als dass alle Adressaten der Leitlinie Akupunkteure sind.
Ich vermute jedoch, dass die Unterscheidung zwischen delegieren und selbst machen so nicht beabsichtigt ist. So sollten PPI gegeben werden, was nur möglich wäre, wenn der Arzt sie aus der Schublade holt und dem Patienten persönlich zusteckt, während die Lasertherapie nicht eingesetzt werden sollte, was voraussetzt, dass jeder Arzt ein Lasergerät in der Praxis stehen hat.
Was das „spezifische und eindeutige“ Formulieren von Empfehlungen angeht, oder besser gesagt, deren Nicht-Befolgung, setzt die S3-Leitlinie Therapie der Psoriasis vulgaris unter Federführung der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft noch einen drauf. Sie hält sich nicht einmal an eines der beiden von der AWMF vorgeschlagenen Schemata für die Empfehlungsgrade: Für eine starke Empfehlung verwenden die Autoren wird empfohlen, für eine schwache Empfehlung kann empfohlen werden und für eine offene Empfehlung kann erwogen werden. Ohne die ausführliche Anleitung, wie die Formulierungen gemeint sind, käme man da ziemlich ins Schwimmen. Zum Glück gibt es parallel dazu bei jeder Empfehlung ein Pfeil-Symbol auf farbigem Grund. Und die sind immerhin ziemlich „spezifisch und eindeutig“.
Bildquelle: Aditya Saxena, Unspleash