Vom Hoffnungsträger zum Ermittlungsobjekt: Als erstes orales Medikament gegen COVID-19 erhielt Paxlovid staatliche Förderung der Extraklasse. Doch wo das Angebot lockt, sind Opportunisten nicht weit.
Paxlovid® sollte Leben retten – und öffnete nebenher Schlupflöcher in Millionenhöhe. Auf einem guten Nährboden florierte der Schwarzhandel: Gratis-Bundware, lasche Nachweise und späte Limits sind nur einige begünstigende Faktoren. Zeit für einen Paxlovid®-Faktencheck gespickt mit Regeln, Lücken, Ermittlungen und Lehren.
Was bisher geschah: Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) erteilte am 28. Januar 2022 die bedingte Zulassung für Paxlovid® (Nirmatrelvir + Ritonavir). Um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern, kaufte die Bundesregierung noch im Februar 2022 rund eine Million Packungen beim Hersteller Pfizer. Das Medikament sollte Apotheken kostenlos für die Abgabe an Patienten mit ärztlicher Verordnung zur Verfügung stehen; die Kosten trug der Bund. Der Einkaufspreis blieb zunächst geheim, doch Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung enthüllten später: Der Bund zahlte rund 650 Euro pro Packung, insgesamt also etwa 650 Millionen Euro. Weder Pfizer noch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) wollten den Preis offiziell kommentieren – beide beriefen sich auf Geheimhaltungsklauseln.
Zu Beginn erfolgte die Distribution ausschließlich über Bundesbestände, nicht über den regulären Großhandel. Apotheken konnten Paxlovid® über definierte Pharmazentralnummern (PZN) bestellen:
Ärzte durften bis zu fünf Packungen auf Vorrat halten, Apotheken belieferten sie direkt, die Abrechnung lief über das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS). Eine Vorratshaltung in Apotheken war anfangs untersagt, später nur in begrenztem Umfang erlaubt. Erst am 19. Januar 2023 führte das BMG verbindliche Bevorratungsgrenzen ein, nämlich maximal 20 Therapieeinheiten pro Apotheke und 50 Einheiten für Krankenhausapotheken. Damit kam die Regulierung über ein Jahr nach Beginn der Sonderverteilung – zu spät, um Missbrauch in der Anfangsphase zu verhindern.
Anfang 2023 fiel dem Gesundheitsministerium auf, dass einige Apotheken enorm große Mengen Paxlovid® bestellt hatten – weit über den typischen Bedarf hinaus. Das BMG stellte daraufhin Strafanzeigen gegen mehrere Apotheken und informierte über 25 Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland. Die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (ZKG) übernahm federführend die Ermittlungen.
Im Juli 2025 kam es in mehreren Bundesländern zu Razzien, unter anderem in München, Regensburg und Bayreuth. 100 Polizisten durchsuchten Apotheken, Privaträume und Lagerräume. Ein Berliner Apotheker wurde bereits im Dezember 2024 zu einem Jahr und zwei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, zusätzlich zu einer Wertersatzzahlung von rund 237.000 Euro. Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. In Bayern laufen mehrere Verfahren; in einem davon klagte die Staatsanwaltschaft Nürnberg wegen Untreue, unerlaubten Großhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln und vorsätzlicher Abgabe an Unbefugte. Der nicht-approbierte Mitarbeiter der Hauptangeklagten wird nur wegen Beihilfe belangt, da das Delikt der Untreue nur von Personen mit besonderer Pflichtstellung begangen werden kann.
Das System war geradezu prädestiniert für – nennen wir es „Fehlanreize“. Während der Bund seine Bestände zum Nulltarif an Apotheken ausgab, kostete dieselbe Packung im regulären Großhandel später über 1.100 Euro. Der preisliche Unterschied machte das Medikament spätestens dann zu einem begehrten Handelsobjekt. Das Geld für die Bund-Ware war bereits bezahlt, so dass sich vielleicht der Ein- oder Andere dachte: „Wenn ich die Packung nicht verkaufe, wird sie sowieso vernichtet. Es entsteht ja kein Schaden.“ Offiziell war der Export oder der gewerbliche Weiterverkauf streng verboten. Doch der Zugang zum Bestellsystem war einfach – und die Überwachung der Abgabemengen lasch. Solange niemand extrem viel bestellte, blieb der Vorgang unauffällig. Genau hier lag das Problem: Das System bestrafte Gier, aber nicht Raffinesse.
Im Sommer 2023 rief das BMG Apotheken dazu auf, verfallene Paxlovid®-Packungen selbst zu vernichten. Eine Rückgabe an den Bund oder den Großhandel war nicht vorgesehen. Damit entfiel die Möglichkeit, zentral zu erfassen, wie viele Packungen tatsächlich im Umlauf waren. Hier wäre ein anderes Vorgehen sinnvoll gewesen: Bei Herstellerrücknahmen oder Vernichtungen die vergütet werden sollen, schicken Apotheken üblicherweise entweder das Medikament selbst, oder die Lasche mit der Chargenbezeichnung an den Hersteller, um eine Gutschrift oder zumindest eine Bestätigung zu erhalten. Im Grunde hätte auch ein Fotobeweis genügt, um die unschuldigen Apotheken zu entlasten und die schwarzen Schafe ausfindig zu machen. Für Paxlovid®-Bundware gab es ein solches Prozedere jedenfalls nicht.
Hätte man ein solches System etabliert, wäre es einfacher gewesen, Unstimmigkeiten zwischen Bestellungen, abgegebenen Packungen und vernichteter Ware aufzudecken. So aber konnte jede Apotheke rein formal nachweisen, dass Bestände „entsorgt“ wurden – selbst wenn sie faktisch längst in anderen Kanälen verschwunden waren. Hinzu kam, dass für Paxlovid® in der Sonderverteilungsphase keine lückenlose Rezept- oder Chargendokumentation vorgeschrieben war. Ein Abgleich zwischen eingegangenen Verordnungen und abgegebener Menge fand nicht statt. Bei Tierarzneimitteln ist eine solche Rückverfolgbarkeit längst Standard: Jede abgegebene Charge wird dort mit dem entsprechenden Rezept dokumentiert. Im Fall von Paxlovid® verzichtete man auf diesen bürokratischen Aufwand – in der Annahme, Apotheken würden mit staatlicher Gratisware schon verantwortungsvoll umgehen. Rückblickend war das, gelinde gesagt, blauäugig.
Der Paxlovid®-Fall zeigt, wie anfällig staatliche Sonderprogramme für Missbrauch sind, wenn Kontrolle und Nachweisführung fehlen.
Dass nur die größten Fische ins Netz gingen, liegt nicht am fehlenden Willen der Ermittler, sondern an den strukturellen Lücken im System. Wer in Maßen gestohlen hat, war und ist kaum zu finden.
Paxlovid® steht exemplarisch für gut gemeinte, aber schlecht abgesicherte Notfallprogramme. Die Apotheken, die sich an Recht und Ethik hielten, leiden heute unter dem Vertrauensverlust, den einige wenige verursacht haben. Die Lehre sollte sein: Nicht Misstrauen gegenüber Apotheken, sondern bessere Systemarchitektur – mit klaren Nachweisen, Kontrollen und Verantwortlichkeiten. Denn wer Milliarden investiert, sollte auch wissen, wohin die Packungen gehen.
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