Für Frühgeborene ist bereits der Start ins Leben ein Hürdenlauf. Doch auch die psychische Gesundheit ist oft fragiler – und das lebenslang. Ein Appell, eure Anamnese zu erweitern.
Ungefähr 6,5 Prozent aller Geburten erfolgen vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche, dabei haben etwa 1,5 Prozent ein Geburtsgewicht von weniger als 1500 g oder ein Gestationsalter unter 32 Wochen. Frühgeburten, insbesondere extreme Frühgeburten, sind offensichtlich mit einem erhöhten Risiko psychischer Störungen im Erwachsenenalter verbunden – von Depressionen und Angstzuständen bis hin zu Psychosen und bipolaren Störungen. Geht man von der gegenwärtigen Geburtenrate aus, kann man annehmen, dass in Deutschland zurzeit etwa 1,5 Millionen Menschen im Alter von 0 bis 35 Jahren mit solchen Risikofaktoren leben – also grob geschätzt ca. 5 Prozent dieser jungen Altersgruppe.
Mehrere Studien haben einen Zusammenhang zwischen einer Frühgeburt und negativen psychologischen oder psychiatrischen Folgen im späteren Erwachsenenleben festgestellt; die neueste Untersuchung hierzu wurde kürzlich in JAMA Open publiziert und bestätigte erneut einen Zusammenhang, an den man in der Allgemeinmedizin nicht unbedingt sofort denkt.
Die RHODE (Rhode Island Cohort of Adults Born Preterm), eine longitudinale Kohortenstudie, beobachtete seit den 1980er Jahren 158 Frühgeborene (unter 1850 g) bis zu 35 Jahre lang und verglich sie mit einer Kontrollgruppe von 55 nach „normal“ langer Schwangerschaft geborenen. Zur Erhebung psychischer Endpunkte wurden ASEBA (Achenbach System of Empirically Based Assessment), das am häufigsten verwendete Maß für Internalisierungs- und Externalisierungsprobleme, verwendet. Insgesamt fand man in der Frühgeborenen-Gruppe mehr kardiovaskuläre Risikofaktoren und eine höhere Anzahl an psychischen Störungen, genauer gesagt eine höhere Neigung, Probleme zu internalisieren (β [SE], 0.85 [0.33]; P = .01), einschließlich Angstzuständen, Depressionen, und körperlichen Beschwerden, was insgesamt zu Beobachtungen anderer Studien (hier und hier) passt.
Auch somatische Befunde wurden erhoben. Systolischer Blutdruck ([SE], 7.15 [2.47]; P = .004), und Triglyzeride (β [SE], 53.97 [24.6]; P = .03) waren in der frühgeborenen Gruppe höher, und die Knochendichte etwas niedriger (β [SE], −1.14 [0.40]; P = .004).
Selbstverständlich können nicht-randomisierte Beobachtungsstudien mit einer so langen Laufzeit verschiedene Limitierungen aufzeigen. Zunächst stellt sich immer die Frage, wie repräsentativ Studienergebnisse sein können. Klinische Studien finden oft in hochspezialisierten Zentren statt. Dort kann insgesamt die medizinische Versorgung besser sein, außerdem kann das Bewusstsein der „Überwachung“ die Beantwortung von Fragebögen beeinflussen (Hawthorne-Effekt), sodass die Ergebnisse nicht immer generalisiert werden können.
In der RHODE Studie verblieben nur noch 73 Prozent der Teilnehmer bis zum Alter von 35; aus der Publikation geht nicht klar hervor, ob sich diese Drop-out-Rate gleichmäßig auf beide Gruppen verteilt hat. Wenn z. B. viel mehr Kinder/junge Erwachsene aus der „normalen“ Gruppe ausgeschieden sind, dann verschiebt sich das Gleichgewicht in Richtung derjenigen mit Symptomen, weil diese Gruppe unter Umständen motivierter ist, sich untersuchen zu lassen. Die Studie selbst hat keine Erklärung geliefert, durch welchen Mechanismus Frühgeborene ein höheres Risiko für psychische Probleme im Erwachsenenalter haben könnten. Man könnte an die Hirnentwicklung und an Neurotransmitter im letzten Trimester der Schwangerschaft denken (was bei zu früher Geburt dann gestört wird). Möglicherweise könnte die lange Zeit als Baby in der Intensivstation mit vielen äußeren Reizen (Geräusche, Licht, Alarmtöne, Pflegepersonal-Aktivitäten, andere Babys) und dann später die Exposition gegenüber erhöhtem Stress (durch Arztbesuche, besorgte Eltern) dazu führen, dass das Kind unbewusst übersensibilisiert wird und eher dazu neigt, Probleme zu internalisieren.
Die Autoren der RHODE Studie betonen, dass es ein lange gehegter Irrglaube sei, anzunehmen, dass Konsequenzen von Frühgeburten ausschließlich im Säuglingsalter auftreten, und ihre Auswirkungen im frühen Kindesalter nachlassen, was nun wiederholt durch Studien widerlegt ist. Die Ergebnisse zeigten, dass Frühgeburten lebenslange Folgen haben und somit als chronische Erkrankung eingestuft werden können. Diese Erkenntnisse wirken sich auch auf die öffentliche Gesundheit und die Gesundheitsversorgung aus. Da die Zahl der Frühgeborenen wächst und altert, sind solche Zusammenhänge von Bedeutung, und die Frage nach bekannten Schwangerschafts- oder Geburtsproblemen gehört nicht nur zur Domäne der Pädiatrie, sondern kann auch im Erwachsenenalter die Anamnese mit hilfreichen Informationen ergänzen.
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