Viele Eltern zögern noch heute, ihren Kindern bei Schmerzen Aspirin zu geben – denn seit den 80ern gilt es als möglicher Verursacher des potenziell tödlichen Reye-Syndroms. Jagen wir einem Phantom hinterher?
Das Kind leidet fürchterlich unter Kopfschmerzen, doch der bewährte rosafarbene Saft ist aufgebraucht. In ihrer Not gibt die Mutter dem Kind eine halbe Aspirin. Kurz darauf der Schock: Dunkle Erinnerungen – oh Gott, da war doch was mit Kindern und Acetylsalicylsäure! – bestätigen sich beim Blick in den Beipackzettel. Dort steht unter „Besondere Warnhinweise“: „Bei Kindern mit Zeichen einer Virusinfektion, von denen ein Teil, aber nicht alle Acetylsalicylsäure erhalten hatten, wurde das Reye-Syndrom beobachtet; dies ist eine sehr seltene, lebensgefährliche Krankheit.“
Nach dem Vorfall quält sich die Mutter jahrelang mit Vorwürfen, ihr Kind dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt zu haben. Aber quält sich die Mutter zurecht? Die Autoren der S3-Leitlinie Fiebermanagement bei Kindern und Jugendlichen haben Zweifel: Die Gefahr könne „nicht mehr als wissenschaftlich gesichert angesehen werden“. Es bedürfe einer „neuen Evaluation zu der Frage, ob Acetylsalicylsäure gleichwertig zu Paracetamol und Ibuprofen bei Schmerzen und Fieber eingesetzt werden könnte“.
Sie stützen sich dabei vor allem auf den Review Aspirin and Reye Syndrome des Pharmakologen Karsten Schrör aus dem Jahr 2007, damals tätig am Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie des Uniklinikums Düsseldorf. Schrör versucht darin, die „eher wenigen Fakten von den eher vielen Fiktionen“ zu trennen. Vielleicht nicht unwichtig zu wissen: Schrör bekam für das Review Geld vom Aspirin-Hersteller Bayer. Auch sonst erhielt er finanzielle Unterstützung von Bayer und anderen Pharmafirmen sowie durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Doch auch andere Fachleute sind skeptisch, ob die Warnungen berechtigt sind. So fragte der US-Kinderarzt James Orlowski schon 1999: „Hat das Reye-Syndrom wirklich jemals existiert?“ Soll also gar ein Phantom-Syndrom Ärzte und Eltern panisch machen?
Als Geburtsstunde des Reye-Syndroms gilt das Jahr 1963, als der australische Pathologe Ralph Douglas Kenneth Reye bei 21 Kindern eine nicht entzündliche Gehirnerkrankung mit Leberschäden beschrieb, an der die meisten Kinder innerhalb weniger Tage starben. Gut 15 Jahre später kam der Verdacht auf, dass das Syndrom mit der Einnahme von Acetylsalicylsäure-Präparaten zusammenhängen könnte. Anfang der 80er-Jahre dann gaben Behörden eine Warnung heraus, die kurze Zeit später auch ihren Weg in die Beipackzettel fand. Dort steht sie nun seit 40 Jahren.
Die Argumente für den Warnhinweis scheinen überzeugend zu sein: Epidemiologische Studien, vor allem aus den USA, verglichen Reye-Fälle mit Kontrollen und fanden statistisch überzeugende Hinweise dafür, dass ein überzufälliger, also vermutlich kausaler Zusammenhang besteht. Die größte dieser Studien, durchgeführt Ende der 70er-Jahre in Ohio, ergab, dass 97 % der Patienten mit Reye-Syndrom Aspirin eingenommen hatten, aber nur 71 % der vergleichbaren Kontroll-Patienten. Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Als in der Folge Kinder nicht mehr mit Aspirin behandelt wurden, sank die Rate der Neuerkrankungen dramatisch: Lag in den USA der Peak im Jahr 1980 bei 555 Erkrankten, wurden nur 15 Jahre später nicht mehr als 2 Fälle jährlich gezählt. Das Reye-Syndrom mutierte in kurzer Zeit vom Schreckgespenst zum Phantom.
Was halten Schrör und die anderen Zweifler dem entgegen? Wie auch die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) einräumen, hatten die Studien aus Ohio und anderen Orten gravierende methodische Mängel: So seien beispielsweise die Medikationshistorien der Probanden nach der Erinnerung der Eltern ermittelt worden. Dabei sei es äußerst schwierig, vergleichbar zuverlässige Daten zu erhalten, da sich Eltern, deren Kinder mit schwersten Symptomen zu kämpfen haben, sich nach Wochen vermutlich weit besser an die vorher gegebenen Medikamente erinnern als die Eltern von Kindern mit harmlosen Verläufen.
Auch wäre es möglich, dass die Eltern in der Reye-Gruppe ihren Kindern Aspirin gaben, weil diese Beschwerden hatten, die dem Reye-Syndrom vorausgingen. Und schließlich konnte offenbar nicht wirklich sichergestellt werden, dass die Kinder in der Reye- und in der Kontrollgruppe dieselben Infektionen hatten. Trotz aller Bemühungen der Studienautoren waren die beide Gruppen also womöglich nicht wirklich vergleichbar.
Selbst der starke Rückgang der Inzidenz des Reye-Syndroms in den 80er- und 90er-Jahren ist kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang. Kleiner Exkurs: Das klassische Beispiel für den verbreiteten Trugschluss, Koinzidenz bedeute Kausalität, ist die Sache mit den Störchen und den Geburten. So lässt sich aus der Beobachtung, dass der Rückgang der Störche mit einer sinkenden Geburtenrate einhergeht, keineswegs die Hypothese ableiten, dass der Klapperstorch die Kinder bringt. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen allein die Koinzidenz so überzeugend ist, dass sie als Kausalität gewertet wird: So gilt der Rückgang der Gebärmutterhals-Karzinome parallel zur Verbreitung des Pap-Tests in Fachkreisen als dramatischer Effekt, der auch ohne randomisierte, kontrollierte und prospektive Studien die Wirksamkeit des Tests als Vorsorgemaßnahme belegt. Exkurs Ende.
Auch beim Verlauf der Inzidenzen des Reye-Syndroms zeigen sich Ungereimtheiten. James Orlowski verweist darauf, dass der Rückgang bereits zu einer Zeit einsetzte, als die Beipackzettel noch gar keine entsprechende Warnung enthielten. Zudem sei das Reye-Syndrom sowohl in Ländern verschwunden, in denen die Kinder auch vorher kein Aspirin bekommen hatten, als auch in Ländern, die Aspirin weiter verwendeten. So beeindruckend die Zahlen aus den USA sind, wo fast alle Reye-Patienten vorher Aspirin eingenommen hatten, so wenig überzeugen die aus anderen Ländern: Laut einzelnen Erhebungen lag der Anteil der Aspirin konsumierenden an allen Reye-Syndrom-Patienten in Indien bei 0 Prozent (0 von 71 Patienten), in Australien bei 8 Prozent (4 von 49) und in Westdeutschland bei 20 Prozent (3 von 15).
Welche Gründe könnte es also noch für das Phänomen geben, dass das Reye-Syndrom, wie James Orlowski schreibt, in den 50er Jahren plötzlich erschien und dann in den späten 80er Jahren fast ebenso schnell wieder verschwand? Als häufigste Erklärung für das Phänomen dient die Unsicherheit der Diagnose. Da es keinen wirklichen Test für das Reye-Syndrom gibt, wurde und wird es im Ausschlussverfahren ermittelt. Diese „Resterampe“ an Symptomen schrumpft mit jeder neu entdeckten Krankheit, im konkreten Fall mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten, die zur Hochzeit des Reye-Syndroms noch nicht bekannt waren. Vor allem Fehler im Fettsäurestoffwechsel der Mitochondrien führen zu Viren-getriggerten Ausfällen, die denen des Reye-Syndroms entsprechen.
So what, könnte man nun fragen. Denn ob Aspirin einer der Faktoren ist, die bei Kindern das Reye-Syndrom auslösen können, scheint inzwischen ohnehin rein akademischer Natur zu sein. Auch lässt sich Aspirin als Schmerzmittel gut ersetzen, vor allem durch Paracetamol, in dessen Beipackzettel sich kein entsprechender Warnhinweis findet. Doch Karsten Schrör warnt vor einem leichtfertigen Austausch der Mittel: Zum einen hemme Paracetamol – anders als Acetylsalicylsäure – Entzündungen nicht, weshalb es bei Hals- und Ohrenentzündungen weniger hilfreich sei. Zum anderen könne es Allergien fördern und schon bei geringen Überdosierungen die Leber dauerhaft schädigen.
Am Ende läuft der Disput auf die alte Erkenntnis hinaus, dass man bei jeder Einnahme eines wirksamen Mittels den Preis der Nebenwirkungen zahlt. Ein Mittel durch ein anderes zu ersetzen, heißt vielleicht nur, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Banal, aber wahr: Man sollte sich immer gut überlegen, ob man ein Medikament wirklich braucht – die allermeisten Beschwerden legen sich schließlich auch ohne äußeres Zutun.
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