Unser Gehirn ist weniger symmetrisch als man denkt – nur so können wir unseren komplexen Alltag bewältigen. Diese Asymmetrie ist bis ins hohe Alter im Wandel. Ein Blick hinter die Schädelfassade.
Die funktionelle und strukturelle Asymmetrie des menschlichen Gehirns gilt als eine evolutionäre Besonderheit, die komplexe Fähigkeiten wie Sprache, Empathie und Kreativität ermöglicht. Bislang wurde angenommen, dass diese asymmetrische Organisation im Erwachsenenalter weitgehend stabil bleibt. Neue Daten aus der UK-Biobank widerlegen jedoch diese Sichtweise und zeigen, dass die Hemisphärenbalance über die gesamte Lebensspanne hinweg dynamisch bleibt. Die kürzlich in Nature Communications veröffentlichte Studie liefert hierzu erstmals umfassende longitudinale Befunde und zeigt, wie eng Veränderungen der Gehirnasymmetrie mit individuellen Lebensereignissen und Erkrankungen verknüpft sind.
Die Analyse von über 1.400 Probanden, die im Abstand von zwei bis drei Jahren zweimal mittels MRT untersucht wurden, ergab, dass sich linke und rechte Hemisphäre nicht synchron entwickeln. Vielmehr lassen sich 33 konsistente Muster von Asymmetrien identifizieren, die individuelle Reorganisationsprozesse im Verlauf der Jahre widerspiegeln. Diese Veränderungen sind nicht zufällig, sondern systematisch mit Verhalten, Lebensstil und Erkrankungen verbunden.
Besonders eindrücklich war der Befund, dass der Eintritt in den Ruhestand mit spezifischen Reorganisationsprozessen der Gehirnasymmetrie einherging, die sich klar von den Mustern bei weiterhin Erwerbstätigen oder langjährig Pensionierten unterscheiden. Auch psychosoziale Faktoren wie Bildung, Haushaltsstruktur und Lebensereignisse wie Verlusterfahrungen standen in enger Beziehung zu den beobachteten Mustern.
Darüber hinaus zeigten sich deutliche Assoziationen mit ärztlich dokumentierten Erkrankungen: Bei Depressionen und suizidalen Symptomen fanden sich Veränderungen in asymmetrischen Mustern, die den lingualen und anterioren cingulären Kortex sowie den superioren Frontallappen einbezogen. Ein weiteres Muster mit Verschiebungen im postzentralen Gyrus, im posterioren Temporallappen und im supramarginalen Gyrus stand ebenfalls in Zusammenhang mit depressiven Störungen. Für Angststörungen waren vor allem asymmetrische Veränderungen im Bereich des Gyrus lingualis, des anterioren Cingulums und des superioren Frontallappens charakteristisch. Schlafstörungen zeigten sich in auffälligen Asymmetriemustern, die insbesondere den inferioren Temporallappen und die temporale Fusiformis-Region betrafen.
Auch bei dermatologischen Erkrankungen konnten asymmetrische Veränderungen nachgewiesen werden, vor allem in temporookzipitalen Arealen sowie in Faserbahnen des limbischen Systems. Diese traten gehäuft bei Patienten mit chronischen Hauterkrankungen und Narbenbildungen auf.Schließlich waren Infektionskrankheiten, vorwiegend Darminfektionen sowie bakterielle Infektionen durch Staphylokokken oder Streptokokken, mit asymmetrischen Veränderungen im Planum temporale sowie in cerebellären Strukturen assoziiert. Diese spezifischen Verknüpfungen verdeutlichen, dass die Art und Lokalisation der asymmetrischen Veränderungen wertvolle Hinweise auf zugrundeliegende Erkrankungen geben können.
Die Befunde zeigen, dass die Gehirnasymmetrie ein hochdynamisches Merkmal ist, das sensibel auf äußere Einflüsse reagiert. Damit wird ein neuer Zugang für die Neurologie und Psychiatrie eröffnet: Asymmetriemuster könnten künftig als Biomarker dienen, um Krankheitsrisiken frühzeitig zu erkennen oder den Erfolg therapeutischer Interventionen zu überwachen. Besonders die Assoziationen mit Depression, Angst und Schlafstörungen weisen auf ein Potenzial zur individualisierten Diagnostik hin. Zudem zeigt die Studie, dass altersbedingte Veränderungen allein nicht ausreichen, um strukturelle Umbauten zu erklären, sondern dass konkrete Lebensereignisse wie der Übergang in den Ruhestand tiefgreifende Spuren im Gehirn hinterlassen können.
Die Arbeit bedeutet einen Paradigmenwechsel im Verständnis der Gehirnasymmetrie: Anstelle einer statischen Eigenschaft erweist sich die hemisphärische Balance als dynamischer Prozess, der durch Verhalten, Lebensstil und Krankheit geprägt wird. Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass Veränderungen in der Gehirnasymmetrie künftig als wertvolle Marker für die Diagnostik, Prävention und Therapiebegleitung betrachtet werden sollten.
Bildquelle: Engin Akyurt, Unspleash