Ein Demenzpatient bekommt eine Pneumonie. In seiner Patientenverfügung ist festgehalten: Er will keine Therapie. Aber würde er jetzt wieder so entscheiden? Über den moralischen Sprengstoff der Demenzverfügung.
Die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert schreibt in ihrem neuen Buch (Leben, Körper, Tod – Zwölf aktuelle Kontroversen der Medizinethik) über drängende, konfliktbehaftete ethische Themen, die Mediziner, Patienten und Angehörige gleichermaßen beschäftigen. Eins der heikelsten Themen: der Umgang mit Demenzpatienten am Lebensende. DocCheck hat mit ihr gesprochen.
DocCheck: Im ersten Kapitel Ihres Buchs skizzieren Sie den fiktiven Fall einer Frau mit Demenz im Endstadium, die noch bei klarem Verstand verfügt hat, dass sie später nicht behandelt werden möchte. Welche ethische Frage stellt sich da?
Schöne-Seifert: Da kann es einen Konflikt geben, den man Past-Directive-versus-Present-Interest-Konflikt nennt. Die Frau in dem Szenario bekommt eine Lungenentzündung. Sie wird entgegen ihrer expliziten Patientenverfügung – die Past Directive – behandelt. Das Argument: Sie ist jetzt eine andere Person, die aktuell ein anderes Interesse – das Present Interest – hat, nämlich behandelt zu werden, um weiterzuleben.
DocCheck: Wie oft kommt so etwas vor?
Schöne-Seifert: Das weiß man nicht, es gibt darüber keine Daten. Dass viele Professionelle den Fall kennen, ist aber fraglos. Dieser Fall wird in der Literatur seit 50 Jahren zunehmend häufig und auch zunehmend kontrovers diskutiert.
DocCheck: Warum gibt es noch keine eindeutigen Regelungen?
Schöne-Seifert: Weil es eine Kontroverse mit Zündstoff ist, auf die Menschen extrem unterschiedlich reagieren. Auf der einen Seite gibt es Leute, die sagen, wir müssen einen Menschen, dem es überwiegend gut geht, auch wenn er seine eigene Patientenverfügung nicht mehr versteht, nach objektiven Kriterien behandeln – so, wie wir ihn ohne Patientenverfügung behandeln würden. Die andere Position vertritt, dass es zum Kern der subjektiven Menschenwürde und der legitimen Lebensgestaltungshoheit gehört, über solche Situationen verfügen zu dürfen. Diese Grundkontroverse besteht nicht nur zwischen Patienten und Angehörigen, sondern auch zwischen Juristen und Ethikern.
DocCheck: Ließe sich der Konflikt denn überhaupt abschließend klären, zumindest juristisch?
Schöne-Seifert: Wenn ein Fall bis zum Bundesverfassungsgericht durchgekämpft würde, wäre es kaum anders denkbar, als dass Menschen auch hier das Recht bekommen, über ihr eigenes Sterben zu bestimmen. Das ist aber bisher nicht passiert. So werden solche Patientenverfügungen zum Teil ignoriert, gewissermaßen in den Papierkorb geworfen. Klagen gegen das Missachten einer Verfügung im geschilderten Spezialkonflikt gibt es bisher nicht, soweit ich weiß.
DocCheck: Was ist das Besondere bei einer Demenz?
Schöne-Seifert: Wenn in einer Patientenverfügung direkte Anweisungen zur Demenz stehen, nennt man diesen Passus auch Demenzverfügung. Sie besteht in der Regel darauf, lebenserhaltende Behandlungen zu untersagen. Das kann nun aber jemanden betreffen, der auf seine Weise lebenszufrieden oder lebensfroh wirkt.
DocCheck: Man kann im Laufe seines Lebens seine Meinung ändern, man kann sich scheiden lassen, obwohl man sich ewige Treue geschworen hat. Und wir respektieren solche Präferenzänderungen. Was ist Ihrer Meinung nach anders beim Demenzkonflikt?
Schöne-Seifert: Aus meiner Sicht, und da bin ich nicht allein, besteht zwischen einer Präferenzänderung – man will erst Greenpeace unterstützen und dann später nicht mehr – und einer Demenz-Situation der fundamentale Unterschied darin, dass an die Vorstellung von einem würdevollen Ende nicht eine andere Vorstellung tritt, sondern dass sie einfach erlischt.
DocCheck: Sie plädieren also dafür, dass das alte Ich gegenüber dem neuen, dementen Ich Vorrang hat?
Schöne-Seifert: Richtig. Ich meine aber, dass die Fraktion derer, die das anders sehen, mit Argumenten nicht immer zu überzeugen ist. Man kann jedoch den moralischen Sprengstoff aus der Debatte ein bisschen herausnehmen, indem man in einer Demenzverfügung diesen Konflikt direkt adressiert und festlegt, dass auch dann, wenn man auf seine Umgebung lebensfroh wirkt, die Patientenverfügung befolgt werden soll. Dann hat man jedenfalls klar gemacht, dass man den Konflikt realisiert hat.
DocCheck: Der Sprengstoff liegt wahrscheinlich in der Priorisierung, dass das alte Ich mit seinem Bewusstsein und seinem Reflexionsvermögen mehr zählt als das spätere Ich, also als der glückliche Demente. Sie argumentieren dagegen, dass es ja dieselbe Person ist, dass die beiden Ichs zusammenhängen. Das alte Ich ermöglicht das neue Ich überhaupt erst.
Schöne-Seifert: Genau. Es geht nicht darum, dass jemand von außen sagt, dieses Leben ist nicht mehr therapiewert, sondern dass man sehenden Auges entscheidet, in einem solchen Zustand nicht mehr behandelt werden zu wollen. Es werden am Ende gewiss nicht alle so entscheiden, aber für diejenigen, die das vehement wollen, ist diese Debatte wichtig. Nur damit ich nicht falsch verstanden werde: Es geht mir nicht darum, dass möglichst viele Menschen eine Demenzverfügung haben. Aber wenn sie eine haben, sollten sie darauf bauen können, dass sie auch befolgt wird.
DocCheck: Ich weiß nicht, ob Sie ein Freund von Zombiefilmen sind.
Schöne-Seifert: Nur ein theoretischer Freund.
DocCheck: Da gibt es die Situation, dass jemand sagt, wenn ich gebissen werde, dann erschießt mich, das bin nicht mehr ich. Das ist vielleicht ein etwas drastischer Vergleich …
Schöne-Seifert: … überhaupt nicht. Ich sehe die Parallele.
DocCheck: Von einem Dementen geht natürlich nicht die Gefahr aus wie von einem Zombie, aber die Grundsituation, über sein späteres Ich zu bestimmen, ist dieselbe.
Schöne-Seifert: Ich finde es interessant, aufzudröseln, welche Motivation jemand haben kann, um so eine Demenzverfügung aufzusetzen. Erstens: Man fürchtet, es ist ganz grauenhaft leidvoll, was da auf einen zukommt. Das trifft bei den glücklichen Dementen nicht zu. Zweitens: Man möchte würdevoll erinnert werden. Drittens: Man möchte seinen Angehörigen nicht zur Last fallen. Man möchte einfach nicht, dass die Kinder jahrelang mit einem Enten füttern gehen und einem Schokoladenpudding einflößen müssen, obwohl man sie gar nicht mehr erkennt. Das geht in Richtung Ihres Zombiebeispiels. Viertens: Man möchte keine Ressourcen verbrauchen, obwohl man nicht mehr man selbst ist.
DocCheck: Die Motivation, würdevoll in Erinnerung bleiben zu wollen, könnte man als Eitelkeit abtun. Wenn man ins Krankenhaus kommt, ist man schließlich auch gut beraten, nicht eitel zu sein. Warum ist die Motivation trotzdem ernst zu nehmen?
Schöne-Seifert: Man wäre schlecht beraten, ein grundsätzliches Problem darin zu sehen, in bestimmten Situationen entblößt und ein bisschen eklig auf andere zu wirken. Ob es jedoch im selben Sinne eitel ist, seine geistige Präsenz nicht verlieren zu wollen, ist eine sehr schwierige Frage. Eitelkeit ist ja bei uns eher gemünzt auf ästhetische Aspekte. Seneca hat gesagt, wenn ich meinen Geist verloren habe und das Haus morsch geworden ist, dann darf ich springen, bevor das Haus zusammenbricht. Das scheint mir eher konsequent als eitel.
DocCheck: Einleuchtend finde ich in Ihrem Buch auch das Beispiel mit der Vegetarierin, die verfügt, später kein Fleisch angeboten zu bekommen, auch wenn sie es mit Freude essen würde. Hier geht es um das Begriffspaar kritisches Interesse versus Erlebnisinteresse.
Schöne-Seifert: … das nicht von mir stammt, aber sehr hilfreich ist. Wenn jemand immer als Gentleman mit Hemd und Krawatte unterwegs war, und man ihn als Dementen in Badelatschen und Jogginghose steckt, ist das in unserer personalarmen Zeit manchmal nicht anders zu machen, aber es ist auch ein kleiner Schlag ins Gesicht des früheren Ichs, oder?
DocCheck: Warum ist die Deutsche Alzheimergesellschaft trotzdem gegen eine Demenzverfügung?
Schöne-Seifert: Sie ist nicht gegen eine Demenzverfügung, sondern gegen deren Bindungskraft beim Past-Directive-versus-Present-Interest-Konflikt. Der aktuelle Wille soll ausschlaggebend sein. Die Autorität der Verfügung wird in diesem Spezialfall angezweifelt, nein, nicht angezweifelt, sie wird bestritten.
DocCheck: Warum?
Schöne-Seifert: Es ist eine vermeintlich menschenfreundliche Position, die sagt, wir müssen jeden, der sich nicht mehr erinnert, der von seiner Patientenverfügung völlig entfremdet ist, vor der Tyrannei einer solchen intellektualistischen Verfügung schützen. Wir müssen diese Menschen wie Patienten behandeln, die keine solche Verfügung haben.
DocCheck: Das ist ja auch ihre Klientel, die die Alzheimergesellschaft damit zu schützen meint.
Schöne-Seifert: Richtig. Es ist sehr wohlwollend und menschenfreundlich gedacht, aber es trifft auf viel Widerstand. Ich habe in Vorträgen das Gefühl, ich renne mit meiner Gegenposition offene Türen ein. Es gibt offenbar viele Menschen, denen wirklich am Herzen liegt, dass sie über ihr Ende als Demenzkranke selbst entscheiden können.
DocCheck: Gehen wir noch einen Schritt weiter: Ein Mensch hat verfügt, bei fortgeschrittener Demenz sterben zu wollen, auch wenn er nicht krank ist. Man könnte ihm Essen und Trinken vorenthalten. Sie grenzen da Suizid von Fütterverbot und Komfort-Füttern ab. Was versteht man jeweils darunter?
Schöne-Seifert: Ein Suizid mit Assistenz – jemand gibt einem ein tödliches Medikament – kommt bei fortgeschrittener Demenz nicht in Frage. In der Ethik und im Recht wird ein Suizid nur unter der Maßgabe als zulässig diskutiert, dass er im Zustand voller Urteilfähigkeit vollzogen wird. Das Fütterverbot ist die vorausgreifende Anweisung, im fortgeschrittenen Demenzstadium kein Essen und Trinken mehr zu bekommen. Das ist bei uns derzeit keine reale Option. In den USA wird das unter Ethikern und Juristen seit Jahren diskutiert, aber auch als eine sehr unzuverlässige Option gesehen, weil sie eine enorme Zumutung für Pflegende und Angehörige bedeutet. Deswegen greift man auf das sogenannte Komfortfüttern zurück: Man füttert jemanden auf keinen Fall aufdringlich, sondern nur so weit, wie er es möchte. Da alle maßgeblichen Fachgesellschaften inzwischen künstliche Ernährung bei fortgeschrittener Demenz als nicht indiziert ansehen, ist es eigentlich zwingend, dass man dieses Komfortfüttern betreibt. Und trotzdem wird es hierzulande kaum offen diskutiert. Das wäre aber wichtig, um vernünftige Prozeduren und Leitlinien zu entwickeln.
DocCheck: Was kann man stattdessen tun?
Schöne-Seifert: Weil Komfortfüttern dazu führen kann, dass sich das Leben mit fortgeschrittener Demenz ungewollt über Monate hinzieht, haben US-Autoren kürzlich das Konzept des minimalen Komfortfütterns vorgeschlagen. Wer das für sich selbst im Voraus verfügt, würde gerade so viel Nahrung und Flüssigkeit erhalten, dass er oder sie ohne zu leiden, und ohne Zumutung für die Umgebung möglichst schnell stirbt. Das ist etwas anderes als Sterbefasten, das unter der Kontrolle des Sterbenden steht.
DocCheck: Sie haben im Buch auch noch den Schwenk hin zu der Situation gemacht, dass man Menschen sedieren könnte, sogar schon bevor sie Hunger und Durst zeigen. Das ist heikel, oder?
Schöne-Seifert: Ja. Da Sedierungen an sich nicht lebensverkürzend sind, kann man schon eine Lanze dafür brechen, sie am Lebensende großzügiger einzusetzen als das bisher der Fall ist. Da wird man noch mehr Erfahrung sammeln müssen. Aber wenn Patienten für das Endstadium einer Demenz verfügt haben, sich möglichst würdevoll und schnell aus diesem Leben verabschieden zu können, dann sollte die Umgebung nicht das Gefühl haben, sie verhungern und verdursten zu lassen. Diese Gratwanderung muss man im gemeinsamen Einverständnis hinkriegen.
DocCheck: Spielen wir noch ein ganz aktuelles Szenario durch: Ein Mensch erkrankt an Demenz, will aber nicht mit dem seit 1. September zugelassenen Wirkstoff Lecanemab behandelt werden. Reicht es, zu sagen, ich will nicht?
Schöne-Seifert: Wenn man einwilligungsfähig ist, reicht das.
DocCheck: Das Medikament heilt Demenz nicht, verlangsamt aber den Verfall um einige Monate. Man könnte aber auch sagen, es verlängert den Horror. Denn die Zeit, in der man in hellen Momenten mitkriegt, wie man sich verliert, stelle ich mir fast schlimmer vor, als wenn man gar nichts mehr mitkriegt.
Schöne-Seifert: Ja, diese mittlere Phase mit lichten Momenten zu verlängern, stelle auch ich mir nicht wünschenswert vor. Aber auch die Frage einer krankheitsverzögernden Medikation sollte wiederum eine ganz subjektive Entscheidung sein – unter der Maßgabe, dass wir alle über die bisher nur begrenzten Möglichkeiten gut aufgeklärt werden.
DocCheck: Reden wir noch über Geld. Sie schreiben, derzeit werden die Kosten für die Demenzbehandlung in Deutschland auf 82 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Mit dem neuen Medikament kommen noch einmal Kosten in einer ganz anderen Dimension auf uns zu. Welche ethischen Dilemmata ergeben sich daraus?
Schöne-Seifert: Wir haben einen begrenzt großen Kuchen, denn es gibt ja noch ein paar andere Dinge, die von der öffentlichen Hand bezahlt werden müssen: etwa Bildung, Infrastruktur oder Verteidigung. Wir können nicht so tun, als sei es nur eine Frage des guten Willens, die medizinische Versorgung für alle in allen Situationen zu leisten. Also muss man abwägen und entscheiden, welche Maßnahmen wegfallen. Und darüber reden wir einfach wahnsinnig ungerne, weil es gegen die Vorstellung von der Preislosigkeit des menschlichen Lebens verstößt. Aber de facto müssen wir solche Entscheidungen treffen. Ich glaube, es gibt gar keinen anderen Weg, als gesellschaftlich und transparent darüber diskutieren. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass durch den fantastischen medizinischen Fortschritt, der an vielen Stellen aber nur in kleinen Schritten kommt, das Bezahlbarkeitsproblem zu groß wird. Wir werden da Entscheidungen treffen müssen, die einschließen, dass jemandem, der 75 Jahre das Glück hatte, in einem Gesundheitssystem zu leben, das ihn jederzeit aufgefangen hätte, nicht mehr alles zur Verfügung steht. Ich glaube, dass ein Vorgehen, das nicht altersdiskriminierend ist, aber alterssensible Aspekte mitberücksichtigt, unvermeidlich werden kann.
DocCheck: Die vierte Motivation für eine Demenzverfügung, den sie genannt haben, war, dass man Ressourcen schonen möchte. Darf der Staat das anregen? Es wäre ja im Sinne der Gemeinschaft, die mit dem eingesparten Geld dann anderes finanzieren könnte.
Schöne-Seifert: In unserer Welt: nein. Aber die Frage ist berechtigt. Es gab eine kanadische Psychotherapeutin, Gillian Bennett, die sich 84-jährig und gerade noch urteilsfähig, wegen einer drei Jahre zuvor diagnostizierten Demenz das Leben genommen hat. Das war vor gut zehn Jahren. Sie hat einen zu Tränen rührenden, klugen Abschiedsbrief geschrieben, der große öffentliche Beachtung fand. Damals, anders als heute, durften Ärzte dort noch nicht beim Suizid helfen. Gillian Barnes hat unter anderem geschrieben, sie wolle unter gar keinen Umständen, dass ihr Land, dem sie so viel verdankt, für sie noch weiterhin zig tausende Dollar ausgebe. Ich finde diese Idee honorig und richtig. Aber sie muss von selbst kommen und darf nicht staatlich gelenkt sein.
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