Herr Heydari gehört in Therapie. Doch meine Schweigepflicht hindert mich daran, ihm die Hilfe zu verschaffen, die er braucht. Von der Ohnmacht, einen potenziellen Täter in die Gesellschaft entlassen zu müssen.
Herr Heydari starrt geradeaus, knapp an meinem Gesicht vorbei. Sein Delikt lautet „Bedrohung und Nachstellung“ – im Klartext: Stalking. Ich habe also bereits im Vorfeld keinen kognitiv und emotional hochfunktionalen Patienten erwartet. Der Gefangene mit dem rundlichen Gesicht und den tiefschwarzen Augen streckt mir ein zerknülltes und etwas schmutziges DIN-A 4 Blatt entgegen, beidseitig von Hand beschrieben: „Da steht alles drauf, was passiert ist.“ Ich bewege mich nicht. „Da Sie ja jetzt schon mal hier sind, erzählen Sie es mir doch bitte selbst.“
Er schnauft genervt aus wie ein Achtjähriger, dem die Mutti gerade erklärt hat, dass er sein Zimmer aufräumen muss. „Ich war bei der Anwältin, weil eine mir ’ne Anzeige gemacht hat wegen Bilder … so … Kinderporno.“ – „…?“ – „Ja egal, dann bin ich zu der Anwältin, die Frau Habermeier, und dann hat die plötzlich gesagt, ich darf nicht mehr an sie ran wegen einstweiliger Verfügung und dann waren da auch drei Bullen, die haben sich mir in den Weg gestellt– “
Ich unterbreche ihn, „Herr Heydari, da haben Sie jetzt aber den Mittelteil weggelassen.“ – „Wie meinen Sie?“ – „Man geht nicht mit einem Mandat zur Anwältin und plötzlich fällt eine einstweilige Verfügung mit einem Näherungsverbot vom Himmel. Sie müssen sich an irgendeiner Stelle danebenbenommen haben. Die Dame hat sich belästigt und bedroht gefühlt und deshalb stand am Ende die einstweilige Verfügung. Das in der Mitte ist der spannende Teil. Fangen Sie bitte da nochmal an.“ – „Ja, nee! Die hat mich einfach ignoriert! Ich kam zu der und dann hat die so Betrug gemacht und einfach nix gemacht, obwohl ich voll oft bei der angerufen hab. Die hat ja angefangen. Die hat mich einfach immer wieder ignoriert. So gehtmannichtmitmenschenum! Die hat mich fertig gemacht, nicht umgekehrt. DIEISTDIEJENIGEDIESCHEISSEGEBAUTHATDIESCHLAMPE!!!“Oh oh … „HERR HEYDARI!!!“ Er hält die Luft an „Nicht. Schreien. Jetzt atmen wir erstmal.“
Ich überlege, das Gespräch sofort abzubrechen, entscheide mich dann aber für einen zweiten Anlauf. Immerhin habe ich jetzt eine – wenig erstaunliche – Arbeitshypothese: Wahnstörung vom Typus Liebeswahn, entweder isoliert oder im Rahmen einer Schizophrenie. Mal schauen. Dazu eine dysfunktionale Impulskontrolle und wahrscheinlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Mindestens eine Seitenströmung. Irgendwas Selbstunsicheres scheint auch noch mitzuspielen. Dem gehe ich nachher auf den Grund, falls ich einen Zugang finde. Gleichzeitig stelle ich meine Entscheidung, das Gespräch fortzuführen, infrage – denn als weibliche Bedienstete einem Patienten mit Liebeswahn eine Projektionsfläche zu bieten, indem man seine Behandlung übernimmt, ist immer eine Gratwanderung. Herr Heydari atmet brav mit mir.
„So. Wir fangen nochmal an. Es gab eine Anzeige. Von wem?“ „Da war die Madeleine. Mit der hab‘ ich immer abgehangen. Und die war mit einem anderen Typen, und dann haben die mich verarscht, weil die gesagt haben, mein Penis ist so klein, und dann hab‘ ich halt ein Bild geschickt, dass die das sehen.“Ich habe kurz Schwierigkeiten, so viel Information in einem Satz zu verarbeiten. „Sie hatten also Gefühle für Madeleine?“Er nickt und zuckt gleichzeitig mit den Schultern.„Die aber war mit einem anderen Mann zusammen?“„Ja, an dem Tag. Und dann haben wir WhatsApp geschrieben und dann haben die mich so verarscht. Wegen meinem … Geschlechtsteil.“„Warum haben Sie denn den WhatsApp-Kontakt nicht sofort abgebrochen, sobald das so verletzend wurde?“ – „Ja, ich musste das doch richtigstellen. Mit der Größe.“ – „Und da haben Sie sich gedacht, dass es eine gute Idee sei, Ihren Penis zu fotografieren und als Beweismittel zu schicken?“Wieder Nicken und Schulterzucken, als hätte ich gefragt, ob der Papst katholisch sei. „Was dachten Sie denn, was dann passiert?“„Na, dass die dann sehen, dass mein Penis eine normale Größe hat, und sich entschuldigen.“
Okay, wir haben hier ein paar fette formale Denkstörungen. Er hat nicht den Hauch eines Zweifels, dass das Ablichten und Versenden seines Gemächts eine gute Strategie war. Ich bohre nach: „Aber die haben sich nicht entschuldigt?“ – „Nein! Die haben mich angezeigt wegen Verbreitung von kinderpornographischem Material, weil sie gesagt haben, mein Penis sieht aus wie von einem Kind–“ Kannst du dir nicht ausdenken... „–und deshalb bin ich zu der Anwältin.“
Ich bin ein wenig froh, dass wir uns thematisch von seinem Penis wegbewegen. Solche Patienten haben häufig einen gewissen Beweisdruck –und es wäre nicht das erste Gemächt, das dem Gefängnispersonal zu Beweiszwecken präsentiert werden würde. Ich frage weiter: „Und diesen Fall haben Sie dann der Anwältin geschildert?“„Die hat mich direkt ignoriert! Die hat mir erst 5.000 Euro abgeknöpft, und das ist Betrug im Amt, und ich hätte sie gar nicht gebraucht, weil das nur eine Ordnungswidrigkeit war undgarnichtverfolgtwurde und die hat einfach GARNICHTMEHRGEANTWORTET!“ Das führt nirgendwohin. „Herr Heydari …“ „Mein ganzes Leben lang wurde ich immer nur gekränkt! Vonkleinaufimmernurverarscht!!! ICHHABNIEFREUNDE! SOKANNMANDOCHNICHTMITMENSCHENUMGEHEN!“
Hab ich mir doch gedacht, dass da noch was Selbstunsicheres schlummert. Kurz überlege ich, ob Herr Heydari psychotisch sein könnte, weil ich ihn so gar nicht zu greifen bekomme. Allerdings liegen jedoch weder Halluzinationen noch desorganisierte Sprache oder Verhalten oder andere Symptome vor, die für eine Psychose sprechen würden. Also lande ich diagnostisch doch wieder beim Liebeswahn und der Persönlichkeitsstörung. Der exakte Hergang des Anwaltsgespräches und der Zurückweisung, die dann in der Nachstellung und der einstweiligen Verfügung endete, ist für mich heute wohl nicht herauszufinden. Die nächste Schimpftirade auf die Anwältin dauert fast eine Minute und kann nur durch ein erneutes Erheben meiner Stimme durchbrochen werden.
„Herr Heydari, Sie haben ein Problem.“ – „Ich weiß.“ – „So wie Sie sich benehmen, machen Sie den Menschen Angst. Mit jemandem, der sich so verhält, wollen die Menschen nicht befreundet sein.“ – „Aber man kann doch nicht verlangen, dass ich mein Leben ohne Freunde verbringe!“
Nicht ungeduldig werden, Charlotte, da spricht die Denkstörung. Mach einfach weiter … „Das ist richtig. Deshalb müssen Sie lernen, sich anders zu verhalten.“ – „SIE hat sich doch falsch verhalten! Sie hätte mich ja nicht ignorieren müssen! ICH hab doch nichts falsch gemacht!“Ich zitiere aus dem Haftbefehl, den ich natürlich im PC offen habe „…am 25.05.2025 hinterließ der Angeklagte 70 Sprachnachrichten, in denen er die Geschädigte unter anderem als „Hure“, „dumme Sau“ und“ Abschaum“ titulierte, um seine Missachtung auszudrücken. In einer E-Mail desselben Tages drohte der Angeklagte, dem Opfer ihren „Kopf mit einem Säbel abzuschneiden und sich an einer Kette als Trophäe um den Hals zu hängen“. 32 weitere E-Mails enthielten vergleichbare Androhungen …“ Und so ging das über Wochen.
„Ich wollte ja nur, dass sie mir zuhört.“ – „Hat es geklappt?“ – „Gar nicht.“ – „Eben. Sie müssen lernen, wie man andere Menschen um Aufmerksamkeit bittet, ohne sie mit dem Tod zu bedrohen.“ – „Ich wollte ihr nie was tun.“
Oha! Habe ich da etwa einen Zugang? Jetzt spiegeln, wertschätzend bleiben und dann könnte ich ihn kriegen. „Aber mit der Zurückweisung kamen Sie nicht klar. Das hat Sie richtig tief gekränkt.“ – „Alle weisen mich immer zurück.“ – „…und dann treten Sie die Flucht nach vorne an.“ – „Ich mache ja nur so viel Lärm in der Welt, weil mir keiner zuhört.“ – Was für ein schöner Satz. „Sie brauchen eine Therapie. Was Langfristiges. Draußen.“Er sieht mich das erste Mal direkt an. „Aber wie mache ich das?“
Eine gute Frage. Rechtlich gesehen ist noch nicht viel passiert. Er ist nie handgreiflich geworden, Drogen waren auch keine im Spiel. Er wird vermutlich nicht einmal eine Haftstrafe kassieren. Das heißt: In ein paar Monaten wird diese tickende Zeitbombe ohne jegliche Therapieauflage bei seinem Gerichtsprozess mit einer Bewährungsstrafe entlassen werden. „Herr Heydari, geben Sie mir ein paar Tage. Ich muss darüber nachdenken, welche Therapie für Sie nach der Haft die Passende ist. Ich suche was raus und dann sprechen wir nochmal, okay?“ Ich bringe ihn zurück in seinen Haftraum.
Zurück in meinem Büro atme ich erstmal durch – und lüfte. Ich versuche mich zu sortieren. Die Symptome eines Wahns sind: Fehlbeurteilung der Realität, nicht durch Konfrontation oder gegenteilige Beweise korrigierbar – das habe ich gemerkt. Aber was ich auch bemerkt habe, ist mein Bedürfnis, den Patienten wider besseres Wissen widerlegen zu wollen. Ich hatte von vornherein in meinem Kopf eine Verdachtsdiagnose und bin immer wieder in die Gummiwand seiner Realitätsverdrängung gelaufen. Erst, als ich ihn emotional angesprochen habe, bin ich ein Stück weitergekommen. Nicht nur Herr Heydari steckt in seinen Denkmustern fest.
Das Bittere an diesem Fall: Ich kann dem Klienten nicht so helfen, wie er es bräuchte. Ich kann ihm ein paar Gespräche anbieten und gleichzeitig versuchen, draußen einen Therapeuten zu finden, der sich eine ambulante, regelmäßige Behandlung mit diesem Herren antun würde. Aber selbst, wenn mir das gelänge – Herr Heydari würde es nicht durchziehen. Er kann weder mit Konfrontation noch mit emotionaler Diskrepanz umgehen. Er wird sich nicht freiwillig über Monate, vielleicht Jahre, dem emotionalen Kraftaufwand einer Psychotherapie stellen. Zumal er kaum Leidensdruck verspürt – besser gesagt, seinen Leidensdruck nicht mit seiner desolaten Psyche in Verbindung bringt.
Ich würde dem Richter gerne meinen Eindruck schildern und ihn bitten, den Angeklagten psychiatrisch begutachten und auf seine Gefährlichkeit hin einschätzen zu lassen. Auf diese Weise könnte man vielleicht eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nach § 63 StGB erwirken. Oder zumindest eine Weisung des Gerichtes, die meinen Gefangenen dementsprechend dazu zwingt, sich der Therapie zu unterziehen. Externe Motivation ist immer besser als gar keine.
Leider sind mir hier aufgrund der Schweigepflicht die Hände gebunden: Laut § 203 StGB darf ich nur im Falle einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung davon absehen. Für beides fehlen mir ausreichende Hinweise. In meinem speziellen Berufsbereich darf und muss ich meine Schweigepflicht brechen, sobald die „Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdet“ ist. Aber auch hierfür fehlt jegliche Grundlage. Weder hat mein Klient damit gedroht, jemandem etwas anzutun noch hat er autoaggressive Absichten geäußert. Er hat noch nicht einmal gegen unsere Hausordnung verstoßen. Er hat einfach nur völlig krude Ansichten und keinerlei Schuldeinsicht. Das wäre zwar für den Staatsanwalt eine wertvolle Information, ich bin aber nicht dessen Erfüllungsgehilfin.
Meistens empfinde ich den § 203 StGB als Segen – schützt er doch das therapeutische Geheimnis und ist ein gewisser Ausdruck des Respektes vor der Beratungssituation seitens unseres Gesetzgebers. Im aktuellen Fall aber hat der Paragraf mich in eine Sackgasse manövriert. Herr Heydari wird bei Gericht seinem Anwalt das Reden überlassen und so maximal eine Bewährungsstrafe kassieren. In ein paar Monaten wird er also als freier Mann zurück in seine Wohnung und wahrscheinlich auch zu der des Opfers marschieren. Und ich? Ich kann nichts tun außer auf einen Bewährungsverstoß zu warten – und zu hoffen, dass der Mann seinen verstörenden Worten keine Taten folgen lässt.
Bildquelle: Manuel Torres Garcia, Unsplash