Alenko liegt komplett besoffen auf dem Bürgersteig und will nicht mit ins Krankenhaus. Muss er auch gar nicht – egal, was die glotzenden Passanten um uns herum meinen. Was er uns dann im Rausch anvertraut, hallt noch lange in mir nach.
Der Alarm erreicht uns am späten Nachmittag auf der Rückfahrt eines Krankentransportes. Die Sonne hängt tief über der Stadt, das Licht bricht sich an der Fassade eines Industriegebäudes und läuft wie flüssiges Metall über die parkenden Autos. Mein Kollege Ralf lenkt den Wagen und sagt nichts. Ich spüre seine Müdigkeit, die nicht vom Tag kommt, sondern vom Beruf. Und jede Fahrt ist ein Würfelwurf: Wir wissen, wohin wir fahren – aber nie, was uns am Ende wirklich erwartet.
Als wir ankommen, empfängt uns eine junge Frau, den Blick abwehrend, als habe sie schon zu viele solcher Nachmittage gesehen. Sie zeigt auf einen Mann, der auf dem Bürgersteig liegt, Arme und Beine von sich gestreckt, wie ein schlafender Hund im tiefsten Traum. Er ist nicht etwa gefallen, sondern liegt, als habe er sich die Straße ausgesucht, um endlich weich zu landen. „Da liegt er“, sagt sie, ohne die Stimme zu heben. „Besoffen. Stinkt wie ein Schnapsladen.“ Ihre Stimme klingt wie ein Urteil. Ich nicke, sage nichts, und spüre doch, wie dieses Urteil bereits in mir zu arbeiten beginnt.
Das Alter des Mannes ist für mich schwer zu schätzen, aber etwa Anfang fünfzig könnte er sein. Gesicht rötlich von der Sonne, die Kleidung von Staub und Schweiß gezeichnet. Er wirkt, als sei er aus der Zeit gefallen. Autos fahren vorbei und bremsen kurz, ihre Fahrer drehen die Köpfe, dann beschleunigen sie wieder, als dürfe dieses Bild nicht länger im Blick bleiben.
Wir knien uns zu ihm. Ich rüttle an seiner Schulter. Er hebt die Lider, die Augen suchen Halt, finden aber nur uns – zwei Fremde in Uniform, die ihn aus seinem Schlaf reißen. Sein Blick ist leer und trotzig zugleich, als könne er nicht begreifen, weshalb wir hier stehen und ihm auf die Nerven gehen. „Was wollen?“, murmelt er fast unverständlich. Dem Akzent nach könnte er aus Albanien stammen. Seine Zunge schlägt gegen den Gaumen wie ein abgerissener Kahn am Flussufer. Er wirkt nicht feindselig, sondern eher verwundert. Ein Mann, dem man das Recht auf seinen Rausch irgendwie nicht absprechen will.
Er versucht, aufzustehen. Ein Ruck durch seinen Körper, dann sackt er zurück. Als würde er in einer Welt stehen, die plötzlich keinen Boden mehr hat. „Alle gut“, lallt er und legt sich wieder hin, die Arme von sich gestreckt, die Beine breit wie ein Kind, das trotzig demonstriert, dass es keinen Schritt mehr gehen wird. Ralf fragt nach dem Namen. Keine Antwort. Dann doch: „Alenko, Kos’vo.“ Seine Stimme schwingt, kippt ins Bröckeln, immer wieder ein leises Kichern, das nur von der Schwäche kommt und nicht vom Spott. Ralf blickt mich an, zuckt die Schultern, rollt die Augen. „Nichts für die Klinik“, sagt er zu mir, laut genug, dass der Mann es hören kann. „Aber laufen kann er auch nicht.“
Wir stehen daneben. Um uns herum zieht das Leben weiter, doch es wirkt, als habe sich ein Kreis um diese Szene gelegt. Hilflosigkeit, denke ich. Ein Wort, das in Formularen nüchtern wirkt, hier aber wie ein Abgrund vor uns liegt. Wir haben keine Handhabe, ihn einfach einzuladen und in eine Klinik zu bringen. Er hat das Recht, so zu liegen. Und doch – das Bild eines Mannes, ausgestreckt im Sonnenlicht, ist für die Passanten schwer erträglich. Die Anruferin wird unruhig, sieht uns an, als seien wir jetzt gefordert, das Märchen von der großen Rettung wahrzumachen. „Er braucht Hilfe!“, ruft sie. „Sie können ihn doch nicht einfach …“ – „Danke für Ihre Hilfe“, sage ich, freundlich, aber bestimmt „Wir kommen dann klar.“ Sie sieht mich an, als wolle sie die ganze Stadt anzeigen.
Währenddessen hat Alenko begonnen, sich langsam auf die Seite zu rollen. Er stemmt sich mit einer Kraft hoch, die so gar nicht zu seinem Zustand passt, als hätte er beschlossen, für einen Moment mitzumachen, aber nur, um uns gleich wieder zu enttäuschen. Er versucht, aufzustehen, kippt, sackt zurück, schiebt sich dann seitlich Richtung Bordstein. Schließlich bleibt er wieder liegen, hebt die Arme über den Kopf und schließt die Augen – ein hilfloses Tier, das nur noch schlafen will. Die Hitze sammelt sich um seinen Körper, die Sonne brennt, der Asphalt wirft Blasen und aus der Ferne dröhnt ein Motorrad, das die Straße hinunterrast.
Ralf schnauft, reibt sich die Stirn. „Was machen wir jetzt?“, fragt er in die Sonne. Ich weiß es nicht. Wir können ihn nicht einfach hierlassen. Er ist zwar selbstbestimmungsfähig, kann sich aber nicht auf den Beinen halten. Wir können ihn aber auch nicht einfach mitnehmen. Gesetz zwischen Menschlichkeit und Verwaltung. Noch mehr Passanten bleiben stehen, Autos halten an. Manche flüstern miteinander, andere mustern uns offen. Blicke voller Erwartung, manche auch voller Vorwurf. „Warum tut ihr nichts?“ lese ich darin. Ein älterer Mann tritt näher, seine Stimme scharf: „Sie müssen ihn doch wenigstens aus der Sonne tragen!“ Ich atme, erkläre mit ruhiger Stimme, dass er das selbst könnte – wenn er wollte. Worte, die in meinen eigenen Ohren nüchterner klingen, als sie gemeint sind, und die wie ein Urteil wirken, obwohl ich weiß, dass ich es nicht so will.
Ralf flucht, sein Tonfall verrät Ungeduld wegen der Blicke um uns herum. Wir sind gewohnt, Entscheidungen zu treffen, manchmal hart, manchmal gegen Widerstände. Aber hier, auf offener Straße, inmitten dieser Stadt, fühlt es sich an, als stünde nicht nur der Mann unter Beobachtung, sondern auch wir.
Minuten vergehen. Gespräche von Passanten schwappen an uns heran, Bruchstücke von Kommentaren, die sich in den Lärm der Stadt mischen: das Hupen eines Autos, das Rattern eines Fahrrads über Kopfsteinpflaster, die Musik aus einem geöffneten Fenster. Die Stadt rauscht wie ein Strom, der an diesem Bild vorüberfließt, ohne es aufzunehmen. Einen kurzen Moment lang habe ich vor Augen, wie plötzlich ein YouTube-Video auftaucht, das zeigt, wie ein Betrunkener von Notfallsanitätern einfach liegengelassen und ignoriert wird. Dank Social Media völlig aus dem Kontext gerissen, könnte das für uns einige unangenehme Fragen bedeuten. Aber dann rutscht dieser Gedanke die Klippe hinunter.
Ein paar Minuten vergehen. „Haben Sie eine Versichertenkarte?“, frage ich. Alenko hebt den Kopf, setzt sich langsam auf, hält sich am Zaun fest, der an dieser Straßenecke steht wie ein Grenzposten zwischen Leben und Absturz. Sein Blick wird plötzlich klar. Er zieht ein abgenudeltes Portemonnaie aus Leder aus der Jackentasche, kramt nur seinen Führerschein hervor, hält ihn mir entgegen wie einen Talisman, als müsse er damit beweisen, dass er noch dazugehört.
„Ich kann fahren alles. Alles. Guckst du. Bus, LKW, Motorrad. Hab alle Scheine. Nicht dumm ich. Früher …“ Seine Stimme zittert. Dann kippt sie um. „Kos’vo. Krieg. Hast du gesehen, wie einer explodiert, einfach so? Oder wie Blut so schnell raus, dass du meinen, Boden nie wieder grün?“ Er lacht fast unhörbar, sieht mich an: „Du nicht wissen, was du nicht wissen.“ In diesem Moment wird aus dem betrunkenen Albaner ein Mann, dem das Leben wie ein Pflaster auf der Seele klebt. In seinem Blick liegt etwas Unbeirrbares, eine Sturheit, die nur aus tiefer Ohnmacht kommt. Dann murmelt er noch etwas: „Trinken, weil immer wiederkommen, mit Kopf schwer.“
Ich nicke und weiß nicht, was ich sagen soll. Er erinnerte mich an eine Figur aus diesem Song über Menschen, die man für Märchenerzähler hält, bis ihr Kriegsgedächtnis aufbricht. Alenko blickt auf seine Hände. Die Finger zittern. Er will nicht ins Krankenhaus, will nicht in die Obhut, will nichts außer: vergessen, schlafen, vielleicht morgen wieder neu anfangen.
Dann sieht er auf und erzählt in brüchigen, halbdeutschen Satzfetzen über eine Nacht, in der Rauch über den Dächern hing wie ein schwarzer Himmel aus schwerem Stoff. Er zog mit seiner Einheit durch ein Dorf, das nur noch aus Schatten bestand. Aus Kellern drangen Kinderstimmen, Schreie, die gegen verschlossene Türen prallten. Niemand öffnete oder antwortete. Sie gingen weiter und sagten nichts, weil alle wussten, dass die Schreie keinen Morgen mehr haben würden.
Dann eine Kreuzung im gleißenden Sonnenlicht. Der Himmel so grell, dass die Welt wie ausgebrannt wirkte. Neben ihm brach sein Kamerad zusammen, getroffen von etwas Unsichtbarem, das aus der Ferne kam. Ein einziger Schuss, und die Welt veränderte sich. Er selbst rannte immer weiter, weil ein Stehenbleiben seinen Tod bedeutet hätte. Doch das Geräusch, das dumpfe Aufschlagen des Körpers auf dem Boden, begleitet ihn bis heute. Immer wieder und wie ein Herzschlag, der nicht aufhört.
Vor mir sitzt kein Betrunkener mehr. Kein lästiger Einsatz, keine „HiloPe“. Vor mir sitzt ein Mann, der überlebt hat und dessen Seele an den Rändern ausgefranst ist. Einer, der trinkt, um zu überleben, weil die Stille nüchtern zu laut wäre.
Die Passanten sind weitergegangen, mein Kollege schweigt. Der Mann sitzt da, den Kopf an den Zaun gelehnt, als brauche er ihn, um nicht wieder zu fallen. „Hier besser als da“, flüstert er. „Du nicht wissen, was du nicht wissen“, sagt er noch einmal. Dann steht er auf, taumelt zum Zaun, lehnt sich an, schaut in die Ferne. Die Szene löst sich langsam auf. Die Anruferin ist weitergegangen, nur wir bleiben zurück – und eine Geschichte, die niemand ganz kennt. Wir bleiben noch einen Moment, ohne Drängen und ohne Worte. Dann steigen wir wieder in unseren RTW.
Auf der Rückfahrt in die Wache denke ich daran, wie schnell wir bereit sind, ein Urteil zu fällen. „Betrunkener auf der Straße.“ Vier Worte, eine Schublade, ein müdes Achselzucken. Doch hinter jedem liegt eine Geschichte, die wir nicht kennen. Manchmal blitzt sie auf, für Sekunden nur, und verändert den Blick. Und ich denke an das Spannungsfeld, in dem wir stehen. Zwischen Fürsorge und Freiheit, zwischen Pflicht und Respekt. Wir tragen Verantwortung für den Körper, der nicht aufstehen kann – doch wem gehört das Recht, über das Leben desjenigen zu bestimmen? Hilflosigkeit ist ein Wort der Medizin, aber in Wahrheit ist es auch ein Wort der Philosophie. Wir können den Körper schützen, aber die Würde eines Menschen beginnt dort, wo wir akzeptieren, dass derjenige zu uns auch Nein sagen darf.
Der RTW biegt in die Einfahrt zur Wache, das Tageslicht kippt ins Grau des Hofes. Ralf schaltet den Motor aus und für einen Moment herrscht eine Stille, die lauter schallt als jedes Blaulicht. In mir echot das Aufschlagen eines Körpers auf dem Boden nach, als wäre es mit dem Geräusch des Schließens unserer Wagentüren verschmolzen. Und während wieder Routine einsetzt, weiß ich: Wer am Boden liegt, trägt immer eine Geschichte in sich, die ihn dorthin gebracht hat.
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