Miriam ist adipös und zunehmend unzufrieden. Sie hat so ziemlich alles versucht, um Kilos zu verlieren, doch nichts hilft. Als sie kaum noch mit ihren Kindern spielen kann, folgt der psychische Zusammenbruch – und ein Wendepunkt.
Weltweit sind mehr als eine Milliarde Menschen adipös, davon sind allein etwa 170 Millionen Kinder und Jugendliche. Adipositas wird oft mit „Faulheit“ verbunden und auf eine „Willensschwäche“ reduziert. Dabei sind die Ursachen der Erkrankung komplex und reichen von genetischen Faktoren über hormonelle Regelkreise bis hin zu psychischen Belastungen – Adipositas ist weit mehr als nur „ein paar Kilo zu viel“. Und genau hier lohnt sich ein genauer Blick auf unsere Patienten.
Miriam ist 38 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und Sachbearbeiterin in einem Klinikum. Sie war schon immer etwas kräftiger gebaut. Doch nach der zweiten Schwangerschaft geriet ihr Gewicht außer Kontrolle und stieg rapide an – bis auf 112 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,68 Meter (BMI: 39,8). Anfangs versuchte sie noch mit allerlei vielversprechenden Diäten und Sport gegenzusteuern, doch der Spagat zwischen Familie und Beruf führte immer wieder zu Frust und Heißhungerattacken. „Ich hatte das Gefühl, in einem Teufelskreis zu stecken. Je mehr ich mich unter Druck setzte, desto mehr aß ich“, berichtet sie. Das Essen wurde zum willkommenen Ventil für Stress und Enttäuschung und fand damit immer wieder seinen Weg auf den Teller.
Mit den Kilos kamen dann schleichend Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Kurzatmigkeit und Schlafstörungen dazu. Psychisch zog sich Miriam immer mehr zurück, mied soziale Aktivitäten und fühlte sich oft ausgegrenzt. „Ich kann mich nicht mal mit Freunden zum Essen verabreden, ich habe ja eh nichts zum Anziehen.“ Bis sie eines Tages bei einem Familienausflug eine kurze Strecke kaum noch bewältigen konnte und weinend zusammenbrach. „Ich wollte für meine Kinder da sein und nicht nur von außen auf der Bank zuschauen.“
Das war der Wendepunkt und sie suchte sich professionelle Hilfe in unserer Sprechstunde. In der Behandlung wurden nicht nur Essmuster, sondern auch emotionale Belastungsfaktoren und Miriams Alltagsstruktur genau unter die Lupe genommen. Die Patientin profitierte von achtsamkeitsbasierten Methoden, Taktiken zur Stressreduktion und passgenauer Ernährungsberatung. Nach mehreren Monaten der Therapie berichtete Miriam erstmals seit Jahren mit leuchtenden Augen von mehr Selbstakzeptanz, neuer Energie und den ersten Erfolgen auf der Waage.
Entscheidend war für sie, dass endlich auch ihre seelischen Sorgen ernst genommen wurden – und nicht nur die Waage im Fokus stand. Mit Unterstützung von Ernährungsberatung und Verhaltenstherapie nahm sie in den letzten 9 Monaten der ambulanten Behandlung ganze 13 Kilogramm ab. „Es geht nicht um Perfektion, sondern um Lebensqualität“, sagt sie heute. Der Weg ist noch mühsam und lang, aber Miriam hat gelernt, sich Unterstützung zu holen und Rückschläge auch als Teil ihrer Weiterentwicklung zu akzeptieren.
Adipositas ist weit mehr als nur ein paar Kilos zu viel. Sie ist eine ernstzunehmende Erkrankung mit komplexen Ursachen und gravierenden Folgen für Körper und Psyche. Die Therapie braucht Mut, Geduld und nicht selten viele Anläufe. Hinter jeder Zahl auf der Waage stehen Menschen mit individuellen Geschichten, mit Sorgen, Hoffnungen und vor allem dem Wunsch, verstanden zu werden.
Moderne Behandlungsmöglichkeiten eröffnen neue Perspektiven für einen selbstbestimmten und gesünderen Alltag der Betroffenen. Sie vereinen hierbei Ernährungstherapie, Bewegung, Medikamente und psychotherapeutische Maßnahmen. Neue medikamentöse Ansätze (GLP-1-Rezeptoragonisten wie Semaglutid), bariatrische Verfahren und internetbasierte Therapieprogramme erweitern die Behandlungsmöglichkeiten heutzutage deutlich. Wer Betroffene verstehen und unterstützen will, muss bereit sein, hinter die Fassade zu blicken und gemeinsam neue Wege zu gehen – Schritt für Schritt.
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