Wissenschaftler fanden nun ein neues neurodegeneratives Syndrom bei Kindern, das mit Störungen in Gehirn und peripherem Nervensystem einhergeht. Ursache ist eine Mutation des Gens CLP1, dessen Beteiligung an menschlichen Krankheiten nie zuvor bewiesen wurde.
Im letzten Jahr entdeckten IMBA (Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften GmbH)-Wissenschaftler aus den Gruppen um Josef Penninger und Javier Martinez einen Mechanismus in der Maus, der Nervenzellen absterben lässt. Der Mechanismus beruht auf einem Gendefekt des Gens CLP1 und ist die Basis einer Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen Muskelschwäche und Lähmungen auftreten.
Diese Ergebnisse betrafen die Maus, jetzt fanden Forscher eine Mutation im selben Gen in elf Kindern aus fünf Familien. Die Kinder litten an neurologischen Störungen, die von den Ärzten nicht zugeordnet werden konnten. Wissenschaftler des Baylor College of Medicine in Texas unter der Leitung von James Lupski sequenzierten die Genome der Kinder und stellten fest: Ursache der Nervenstörungen war eine Mutation im Gen CLP1. Wie die Mäuse mit diesem Gendefekt kamen auch die Kinder scheinbar „normal“ auf die Welt. Doch schon bald stellte man sensorische Defekte und eine Störung der Muskelfunktion fest. Zusätzlich erkannte man bei den Kindern ein weiteres Symptom, den sogenannten Mikrozephalus. Noch nie zuvor wurde das Gen CLP1 mit einer menschlichen Erkrankung in Zusammenhang gebracht. Links das Gehirn einer gesunden Maus, rechts das unterentwickelte Gehirn (Mikrozephalus) einer Maus mit einer Mutation im Gen CLP1. IMBA-Gruppenleiter Javier Martinez war der erste, der CLP1 überhaupt entdeckte (Nature, 2007). Welche Rolle eine CLP1 Mutation im Menschen spielt, war bis zu der nun vorliegenden Studie unbekannt. „Wie wir nun beweisen, läuft der Mechanismus in Maus und Mensch offenbar ähnlich ab. Kennt man einen Signalweg im Detail, kann man in einem nächsten Schritt vielleicht eingreifen, um Fehler zu reparieren“, so der Biochemiker Martinez. Sein Postdoktorand Stefan Weitzer, einer der Erstautoren der vorliegenden Studie, erklärt die Hintergründe: „Eine Mutation im Gen CLP1 führt zu Störungen bei der Herstellung einer funktionsfähigen tRNA, die aber zur Erzeugung von Proteinen gebraucht wird. Der Prozess, der hier nicht richtig funktioniert, heißt „tRNA splicing“ und betrifft das Auseinanderschneiden und wieder richtige Zusammenkleben von RNA-Teilen.“
Das Auftreten eines Mikrozephalus war den Wissenschaftlern bei den Mäusen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgefallen. Hiroshi Shiraishi, einer der Autoren der Studie, war überrascht: „Bei neuerlichen Untersuchungen fanden wir tatsächlich auch in den Tieren die unterdurchschnittlich kleinen Gehirne.“ Normalerweise liefern Forschungsergebnisse an Modellorganismen wie der Maus wertvolle Beiträge für die Humanmedizin, hier war es umgekehrt.
Zwischen den fünf Familien der betroffenen Kinder gab es auf den ersten Blick keinen Zusammenhang. Spannend wurde es, als die Forscher feststellten, dass es sich aber bei allen fünf Kindern um genau denselben Gendefekt handelt. Es ist ausgeschlossen, dass zufällig haargenau dieselbe Mutation mehr als einmal entsteht. Somit müssen die Vorfahren dieser Kinder vor vielen Generationen verwandt gewesen sein, die Familien wussten aber nichts davon. Tatsächlich stammten bei weiteren Nachforschungen alle Vorfahren der Familien aus einem Clan in der Türkei. Die Entdeckung dieser Genmutation stützt somit auch die im Jahr 2011 von Forscher-Kollegen in Amerika entwickelte These der „Clan-Genetik“. Originalpublikation: Human CLP1 mutations alter tRNA biogenesis affecting both peripheral and central nervous system function James R. Lupski et al.; Cell, doi: 10.1016/j.cell.2014.02.058; 2014