Viel Arbeit, wenig Schlaf und ungesunde Ernährung: Viele Menschen achten im Alltag nicht genug auf ihre Gesundheit. Bis sie mir gegenüber sitzen – und entsetzt sind, dass ich nichts mehr für sie tun kann.
Hat euch mal ein Arzt eine Lifestyleänderung empfohlen? „Machen Sie mehr Sport, ernähren Sie sich gesünder, versuchen Sie ihr Gewicht zu reduzieren“ – sowas eben. Was wir damit meinen, ist: „Hier und heute könnten Sie noch etwas ändern! Denn der Weg, den Sie gerade gehen, endet nicht gut.“ Aber weil dieses Ende so abstrakt weit weg ist und man sich eigentlich ganz gut fühlt, verhallt dieser gute Rat ohne Konsequenz.
Ich habe erst heute wieder eine Patientin betreut, die am Ende von eben diesem Weg in einer so verfahrenen Lebenssituation steht, dass es für sie keine wirklich gute Lösung mehr gibt. Und manchmal denke ich: „Hätten diese Menschen etwas anders gemacht, wenn man ihnen schon vor 20 Jahren gezeigt hätte, wohin die Reise führt, wenn sie das Ruder nicht sofort radikal herumreißen?“
Die meisten großen medizinischen Probleme entwickeln sich über Jahre und Jahrzehnte. Häufig fängt es mit ein bisschen Übergewicht an: viel Arbeit, wenig Schlaf, ungesunde Ernährung, zu wenig Sport. Man kennt's. Und dann hat man ganz schnell ein paar Kilo zu viel drauf. Jetzt könnte man es mit Sport oder einer Ernährungsumstellung versuchen. Aber selbst wenn es nicht funktioniert – was ist schon ein bisschen Übergewicht. Auch die Bauchspeicheldrüse packt das zunächst locker: Ein paar Kilo mehr? Kein Problem. Der Rücken, die Hüfte, die Knie – wir sind ja jung, der Knorpel ist noch fluffig, da hat das keine Konsequenzen. Das kann man alles jahrelang so machen und die meisten Verschleißerscheinungen merkt man gar nicht mal.
Aber irgendwann beginnt das System zu kippen. Schleichend, aber kontinuierlich. Die Gelenke tun jetzt häufiger weh, weil sie auch einfach zu viel Gewicht tragen müssen. Das meiste Gewicht davon ist am Bauch und das zieht nach vorne und führt zu Rückenschmerzen. Weshalb man sich zwangsläufig weniger bewegt. Was dazu führt, dass weniger Kalorien verbrannt werden. Und weil Essen nicht nur Ernährung, sondern auch Genuss, Kompensation und Entspannung ist, werden genauso viele Kalorien gegessen wie sonst auch. Manchmal sogar mehr. So wächst der Bauch und alles andere. Die Wirbelsäule schmerzt und die Hüfte und die Knie tun es auch.
Spätestens jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, radikal umzudenken und nur noch sehr wenig – und vor allem gute Kalorien (Gemüse!) – zu essen. Wo immer möglich sollte dem Körper durch Bewegung, ausreichend Schlaf und Achtsamkeit etwas Gutes zu getan werden. Doch das würde massive Veränderungen bedeuten – und wir Menschen lassen lieber alles so, wie es ist, auch wenn es Mist ist. Also werden ab diesem Zeitpunkt Schmerzmittel eingenommen, damit man am Gesamtkonzept nichts ändern muss. Mit den Schmerzmitteln kann man sich immerhin einigermaßen schmerzarm bewegen.
Gerade jetzt müsste man sich sagen: „Ich nutze das jetzt, um mich mit Schmerzmitteln mehr zu bewegen, abzunehmen und dem Körper Erleichterung zu verschaffen.“ ... Was so gut wie niemand schafft, weil: die Arbeit, der Stress. Aber auch, weil Essen uns guttut. Essen kann glücklich machen. Viele seelische Verletzungen tun nicht mehr ganz so weh, wenn man etwas Leckeres isst. Mit den Schmerzmitteln geht das so oder so nur eine kurze Weile und auch nur so mäßig gut weiter. Denn der Körper muss nach wie vor zu viel Gewicht tragen und der Verschleiß nimmt deutlich zu – weshalb man entweder mehr Schmerzmittel nehmen muss oder mehr Schmerzen haben wird.
Mein Eindruck bleibt, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung lieber klaglos immer mehr Pillen schluckt, solange sie nichts an ihrem Alltag ändern müssen. Auf die gelegentliche Einnahme von Ibuprofen folgen Coxibe. Irgendwann reicht das nicht mehr, dann kommt Tilidin. Dann kommen die stärkeren Opioide wie Hydromorphon und Oxycodon. Dazu Pregabalin und Gabapentin. Immer ein paar Pillen mehr. Bis es irgendwann nicht mehr geht – trotz Tabletten.
Deshalb gehen sie dann zu den Orthopäden und die werden dann sagen: „Ja, das ist Verschleiß, da bauen wir mal eine Prothese ein.“ Doch die für einen 70kg-Mensch gebaute Prothese muss dann 120kg-Mensch oder mehr tragen und wird deswegen eben nicht so lange halten. Oder sie wird locker. Und weil Übergewicht oft mit Diabetes verbunden ist, haben die Patienten ein sehr hohes Risiko für Wundheilungsstörungen und Protheseninfekte.
Aber selbst wenn alles gut geht, werden die Schmerzen nicht weg sein. Ein Knie- oder Hüftgelenk kann man heutzutage durch eine Prothese relativ gut ersetzen. Die Wirbelsäule mit all ihren kleinen Facettengelenken kann man nicht einfach so ersetzen. Es werden immer starke Schmerzen bleiben. Und nicht selten sind die Schmerzen nach einer OP stärker als vorher. Besonders wenn die OP anfangs hilft, bestätigt das die Patienten darin, alles beim alten zu lassen.
Ein Operateur sagte mal während einer Knie-Prothesenimplanatation bei einem stark übergewichtigen Patienten: „Jetzt kann er endlich wieder schnell zum Kühlschrank rennen“ – das ist indiskutabel menschenverachtend. Es zeigt aber auch die Frustration bei Medizinern, die sich fragen: „Was machen wir hier eigentlich?“ Manche Kliniken sagen: „Erst Gewicht abnehmen, dann implantieren wir die neue Prothese.“ Andere Kliniken sagen: „Man kann ja gar nicht abnehmen, wenn man solche Schmerzen hat.“ So wird die Prothese implantiert in der Hoffnung, dass die Patienten die neue, schmerzfreie Beweglichkeit nutzen, um wieder mehr Sport zu machen. Was nie passiert und alle Beteiligten wissen das auch, aber die Lüge schmeckt eben besser als die Wahrheit. Und so folgt meist eine schmerzbedingte OP nach der anderen. Wenn man nicht zwischenzeitlich an einer Komplikation verstirbt, kommt irgendwann der Punkt, an dem man nicht mal mehr operieren kann. Dann treffe ich auf Menschen, die so starke Schmerzen haben, dass sie sich nicht bewegen können. Und weil sie sich nicht mehr bewegen können, können sie auch kein Gewicht mehr verlieren. Und nach der soundsovielten OP ist es nur noch ein Leben zwischen Krankenhaus und Arztpraxen.
An diesem Punkt sitzen Menschen vor mir und fragen mich, ob man da denn wirklich nichts machen kann. Doch manchmal bleibt mir dann nichts anderes übrig, als ihnen das genau so zu sagen. Hier ist der Point of no Return erreicht – alles andere wäre auch gelogen. Das wird dann auch nicht wieder gut. Vor 15 Jahren, da hätte man durch eine grundsätzliche Änderung des Lifestyles etwas ändern können. Vielleicht. Jetzt ist es zu spät.
Es ist wie eine Reise auf dem Fluss, der zum Wasserfall führt: Anfangs treibt man noch mühelos dahin und genießt die Landschaft. Irgendwann hört man das Rauschen, der Fluss fließt schneller. Jetzt ans rettende Ufer oder gar gegen den Strom zu paddeln wäre zwar anstrengend, aber möglich. Doch es geht ja auch so – es geht sogar sehr gut, fast zu gut. Bis das Rauschen dann lauter und immer lauter wird und der freie Fall einsetzt. Eben der Point of no Return. Und am Ende kommt dann der harte Aufschlag.
Falls du das liest und denkst, du könntest jetzt was ändern – tu es. Es ist nie zu spät, bis es zu spät ist!
Bildquelle: Sandra Seitamaa, Unsplash