Im Schockraum muss alles reibungslos und schnell gehen – für Fehler und Bedürfnisse ist da keine Zeit. Warum die Minuten vor dem Eintreffen des Patienten manchmal die entscheidendsten sind, lest ihr hier.
Es ist Sonntagnachmittag im Oktober, die Sonne scheint und es ist noch ein paar Tage Motorradsaison. Bei dem schönen Wetter sind alle draußen unterwegs. Irgendwo im Rheinland radeln ein Mann und eine Frau auf ihren Fahrrädern neben einer Landstraße. Der Radweg ist voller Schlaglöcher und kaum noch befahrbar, dann endet er schließlich ganz. Also weichen beide auf die Fahrbahn aus. Ein Motorradfahrer fährt bei bester Sicht um eine lang gezogene Kurve. Plötzlich blendet ihn die tief stehende Sonne; er kann kaum was erkennen. Noch bevor er daran denken kann die Geschwindigkeit zu reduzieren – ein Knall. Das Motorrad trifft den hinten fahrenden Mann, die Frau wird nach oben geschleudert und kann hierüber kinetische Energie abbauen. Durch den direkten Aufprall stirbt der Mann noch vor Ort. Die Frau wird rettungsdienstlich versorgt und wir bekommen die Anmeldung: „VU, Motorrad gegen Fahrradfahrer außerorts, C kritisch, Ankunft 17:20 Uhr“.
Die ganze Vorgeschichte wissen wir natürlich nicht, aber so hat man vielleicht ein besseres Bild davon, was uns da erwartet. Wir bekommen tatsächlich meist nur diese kurze Meldung, ein paar Stichworte zum Hauptproblem und die Ankunftszeit. Also versammeln sich alle im Schockraum und bereiten sich auf das vor, was gleich kommt. Es ist eine merkwürdige Situation, weil alle wissen, dass da draußen, zig Kilometer entfernt und in 300 Meter Höhe in einem Hubschrauber, ein Team um das Leben eines Menschen kämpft, der wenige Minuten vorher noch nichts davon ahnte.
Wenn man sich auf das, was da kommt, nicht adäquat vorbereitet, hat man eine gute Chance, davon überrollt zu werden. Ich brauche nur ein paar Minuten, aber die sind wichtig. Ich möchte wissen, welches Team heute da ist, wer wo steht. Bis wir im Schockraum sind, weiß ich meist nur, wer von der Anästhesie da ist. Welche anderen ärztlichen und pflegerischen Kollegen mit mir arbeiten werden, sehe ich erst dann. Es ist NIE das gleiche Team – Es ist IMMER eine neue Konstellation, die es exakt so noch nie vorher gab. Das unterscheidet uns von Formel-1-Boxenstopp-Teams, die mit den immer gleichen Leuten an der immer gleichen Stelle den immer gleichen Vorgang wieder und wieder trainieren – bis sie in sechs Sekunden volltanken und vier Reifen wechseln können.
Das geht bei uns so nicht. Auch weil bei uns immer ein anderes Auto rein kommt und wir oft vorher noch nicht mal das Fabrikat wissen. Und weil wir nicht nur Reifen wechseln und volltanken müssen – sondern ein Problem wie einen Motorschaden oder Hydraulikleck finden und zeitkritisch beheben müssen. Verlassen wir das Beispiel, ihr wisst, was ich meine.
Wie schon erwähnt brauche ich nicht viel Zeit für die Vorbereitung – aber wenigstens eine Minute sollte es sein. Ohne diese Minute der Ruhe wird es anders. Ich habe mal in einer Uniklinik gearbeitet, die quasi mitten in der Stadt lag. Da kam es immer mal wieder vor, dass sich schwer verletzte Menschen zum Beispiel mit Messerstichverletzungen zu Fuß in die Notaufnahme schleppten oder auch der Rettungsdienst so schnell da war, dass ein Voralarm nicht möglich war. Dafür gab es einen Grobhandtaster – so einen dicken, roten Knopf wie man ihn von Not-Aus-Schaltern kennt. Betätigt man den Taster, wird das Schockraumteam ad hoc alarmiert. Keine Zeit für Vorbereitung, kein Durchatmen, kein Getting-ready. Dabei ist eine gute Vorbereitung die Grundlage für alles – im Schockraum wie auch auf der Straße.
Ein Team aus Australien hat für diese so wichtige mentale Vorbereitung des Teams ein Konzept entwickelt, das man immer anwenden kann. Es nennt sich „Zero point survey“. Warum „Zero point survey“? Weil es in der Notfallmedizin das „primary survey“ gibt, also die sogenannte erste Erhebung/Evaluation. Dies folgt meist einem ABCDE-Schema: Behandle zuerst, was die Patienten zuerst umbringt. Atemweg sichern (A=Airway), Atmung sichern (B=Breathing), Kreislauf stabilisieren (C=Circulation) und so weiter. Es hilft in ansonsten chaotischen Situationen den Überblick zu behalten.
Aber damit geht es eigentlich gar nicht los. Und deshalb haben die Kollegen um Cliff Reid dieses Zero-Point-Survey veröffentlicht, was dem Primary Survey noch vorangestellt werden soll. Damit man keinen Zwischenschritt der Vorbereitung vergisst, wurde auch hier ein Akronym entwickelt: STEP-UP („To step up“ meint am ehesten sowas wie „eine Herausforderung meistern“ oder auch auf der Karriereleiter nach oben klettern).
Jeder Buchstabe steht hier für einen Teilbereich, den man vorbereiten sollte:
Habe ich genug gegessen und getrunken? Brauche ich vielleicht noch schnell einen Kaffee und einen Keks? Das, was gleich kommt, wird anstrengend. Überprüfe, ob du für dich selbst noch etwas optimieren kannst. Hier gehört auch die kognitive Bereitschaft dazu, das aufzunehmen, was gleich kommt. Im Moment der Alarmierung spüre ich aber auch oft Adrenalin in mir aufsteigen und das macht zwar schön wach, aber auch aufgeregt – und ich meine hier die unangenehme eher hinderliche Form von Aufregung. Diese Aufregung soll uns wachsam machen und alle mentalen und körperlichen Ressourcen mobilisieren. Adrenalin und Noradrenalin werden freigesetzt; dem Körper werden maximale Ressourcen zur Verfügung gestellt, damit die Muskeln gut durchblutet sind. Das kann in einer Fluchtsituation hilfreich sein – aber ich bin nicht auf der Flucht.
Vereinfacht gesagt ist der Körper physisch jetzt zwar bereit für alles. Aber für klares, fokussiertes Denken ist diese Überreaktion kontraproduktiv. Ich bin auf dem Weg zu einem medizinischen Notfall, der mir vielleicht alle kognitiven Ressourcen abverlangen wird. Zittrige Hände, eine schnelle Atmung und ein regelrecht aufgedrehter, fast überdrehter Kreislauf sind dabei nicht hilfreich.
Ich nutze an diesem Punkt immer eine Atemtechnik, die angeblich von Jet-Piloten kommt. Hol einmal tief Luft – so tief du kannst. Wenn du denkst, deine Lungen sind randvoll mit Luft, machst du den Mund auf und versuchst noch einen letzten Happen Luft regelrecht in deinen Brustkorb zu pressen. Diesen Druck hältst du für 10 Sekunden aus und lässt dann die Luft langsam und kontrolliert raus. Zwei wesentliche Dinge passieren: Der Druck im Brustkorb verlangsamt die Herzfrequenz über einen Vagusreiz (das ist der am Herz bremsende Nerv). Beim Ablassen der Luft spüren wir eine Entspannung und merken regelrecht, wie der Druck aus dem Körper weicht. Bei Bedarf kann man das wiederholen. Mir hilft das sehr, danach bin ich deutlich ruhiger und kann mich gut auf das, was kommt vorbereiten.
Falls nicht durch die Funktion festgelegt, weise den Mitgliedern deines Teams klare Aufgaben zu: „Person 1, du machst die Medikamente. Person 2, du schließt das Monitoring an und machst dann alles für den Atemweg fertig“.
Sind wir sicher? Droht eine Gefahr? Im Krankenhaus eher nicht so wichtig, aber der abgestürzte Dachdecker ist so ein Klassiker im Rettungsdienst, bei dem sich alle auf die Polytraumaversorgung stürzen und dabei ganz vergessen, dass 10 Meter über ihnen ein paar lose Latten vom kaputten Gerüst baumeln, durch die der Dachdecker nach unten gestürzt ist. Also – kurzer Check, ob alle sicher sind und erst dann starten. Im Krankenhaus wäre eher wichtig: Haben wir genug Platz? Können wir Betten oder Geräte entfernen, die uns nur behindern? Müssen die drei Praktikanten wirklich da sein oder ist das eher hinderlich für die Versorgung (und traumatisierend für die Praktikanten)?
Hier würde jetzt die übliche Versorgung beispielsweise nach xABCDE-Schema folgen. Für nicht-traumatologische Patienten herrscht gerade ein erbitterter Kampf zwischen verschiedenen Universitätskliniken, wer das bessere Akronym entwickelt und bundesweit etabliert. Medizin ist eine eitle Wissenschaft. Egal, ob (PR_E-)AUD2IT oder andere Schemata – solche Akronyme helfen dabei, den Überblick zu behalten. Nutzt Checklisten, Poster an der Wand, den Notfallguru (als App oder Buch), … Kurz gesagt: Alles, was euch dabei hilft, strukturiert die Probleme abzuarbeiten, ist sinnhaft.
Teile Informationen mit deinen Team, fordere Updates vom Team ein. Der Teamleader im Schockraum steht bewusst am Fußende und soll nach Möglichkeit den Patienten gar nicht anfassen. Einer soll den Überblick behalten. Und auch wenn man da am Fußende versucht, alles mitzubekommen, gibt es doch immer Dinge, die einem entgehen können. Der Patient hat eingenässt. Der Patient wurde heute morgen aus der Kardiologie entlassen. All das sind wichtige Informationen, die ich nur einordnen kann, wenn sie mir zugetragen werden. Umgekehrt versuche ich, das Team durch regelmäßige Updates mitzunehmen.
Es geht darum das gemeinsame, mentale Modell anzupassen. Als Teamleader lege ich also auch fest, was gerade das Ziel ist. Stabilisierung im Schockraum, um das CT fahren zu können? Oder ist das Ziel, schnellstmöglich abfahrbereit für den OP zu sein ohne vorherige Bildgebung? Draußen im Rettungsdienst kann es sein, dass man das Ziel „schonende Rettung“ der verunfallten Person vielleicht ab einem bestimmten Punkt auf „schnellstmögliche Rettung aus dem Fahrzeug“ ändern muss. Wichtig ist, dass alle im Boot sind.
Eine Sondersituation stellt beispielsweise die Einstellung aller Reanimationsmaßnahmen dar. Da dies eine unumkehrbare Entscheidung ist, fasse ich vor einer solchen Entscheidung kurz zusammen was ist und erkläre, warum ich mich für den Abbruch entscheiden würde. Also sowas wie „Der Patient hatte einen unbeobachteten Arrest, es fand keine Laienreanimation statt, der erste Rhythmus war eine Asystolie. Ich würde noch diesen Zyklus zu Ende reanimieren, dann Rhythmuskontrolle, wenn dann kein Kreislauf würde ich hier abbrechen. Sieht jemand im Team das anders?“ Ich bringe so alle auf den aktuellen Stand und hole mir aktiv die Einschätzungen des Teams ein. Vielleicht habe ich ja was übersehen, dann kann man jetzt nochmal die Strategie überdenken. Oder eben gemeinsam im Team entscheiden, dass wir hier aufhören.
Die Versorgung hört nicht bei P auf. Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz. Eine ordentliche Nachbesprechung ist die beste Vorbereitung auf den nächsten Einsatz. Wie habe ich mich gefühlt? Was ist gut gelaufen? Was können wir beim nächsten Mal besser machen? Brauche ich Hilfe oder Unterstützung? Geht es mir gut?
Bildquelle: Midjourney