Woher sollen Patienten wissen, wann sie zu welchem Arzt müssen? Die Experten sind schließlich wir. Warum es für Hausärzte immer schwieriger wird, den eigenen Zuständigkeitsbereich zu definieren – und was ich mir wünschen würde.
Die Infektsaison ist da und natürlich ist diese Zeit oft zeitlich echt stressig, weil einfach sehr viele Patienten kommen und akut Hilfe benötigen. Wobei man sicherlich darüber streiten kann, wie viele der Patienten wirklich ärztliche Hilfe benötigen und bei wie vielen einfach reichen würde, wenn sie stattdessen bis zu fünf Arbeitstage zu Hause bleiben und ihre Erkältung auskurieren könnten. Interessanterweise merke ich aber auch, dass bei diesen Patienten mein Arbeitsauftrag viel klarer (und damit einfacher zu erfüllen) ist: Untersuchen, ob wirklich eine Antibiose notwendig ist (in 80–90 Prozent der Fälle lautet die Antwort: nein), AU für ein paar Tage und fertig.
Für viele andere Patienten, die aktuell in unsere Praxis kommen, finde ich den Arbeitsauftrag viel, viel schwieriger. Allen voran bei den „Zivilisationserkrankungen“ wie Fettleber (Entschuldigung, heißt ja jetzt MASLD), Diabetes, Hypertonie, Koronarer Herzkrankheit, letztlich auch Divertikulitis und vielen mehr. Für viele dieser Erkrankungen gibt es Leitlinien, für viele gibt es Medikamente, aber alle haben gemeinsam, dass sie vor allem Lebensstil-assoziiert sind. Und da geht das Problem dann los: Einerseits sollen wir ja gemeinsam mit unseren Patienten Entscheidungen treffen (Shared Decision Making) – gleichzeitig aber möglichst nah an den Leitlinien arbeiten, um den optimalen gesundheitlichen Outcome zu erreichen (dafür sind ja auch z. B. die DMPs da).
Das passt nur begrenzt gut zusammen: Viele Patienten möchten gern einen möglichst guten Outcome, aber letztlich scheitern oft die Lebensstil-Änderungen, viele möchten „nicht so viele Medikamente nehmen“, Pharmakologen warnen vor unüberschaubaren Wechselwirkungen bei Polypharmazie – und am Ende sollen wir ja auch die Wirtschaftlichkeit im Blick behalten (Stichwort „WANZ-Prinzip“). Doch das ist utopisch. Wie soll ich Patienten in den wenigen Minuten, die ich sie beim DMP Diabetes alle drei Monate sehe, davon überzeugen, dauerhaft den ganzen in der Werbung angepriesenen, auf Geschmack optimierten „Delikatessen“ – die in Wirklichkeit extrem schlecht für ihre Gesundheit sind – zu widerstehen? Vor allem, wenn ich genau weiß, dass die gesehene Fernsehwerbung dafür jeden TAG mein Zeitbudget für drei Monate übertrifft.
Also doch lieber Tabletten? Da kommt (neben den oben erwähnten Wechselwirkungen) direkt das WANZ-Prinzip und sagt: Ist doch viel günstiger, wenn der Patient jeden Wirkstoff einzeln nimmt, weil Kombi-Präparate mehr kosten. Das heißt bei einem Patienten mit Diabetes und KHK mal locker 6–8 Tabletten pro Tag (Metformin 2–3 x täglich, Glifozin, ASS, Statin, ACE-Hemmer, ggf. noch zusätzliche Medikamente je nach Blutdruck, etc.).
Das alles kann ich den Patienten natürlich erklären – aber das kostet Zeit. Und die habe ich nicht, weil im Wartezimmer noch diverse andere Patienten sitzen, die mich auch alle brauchen. Bei uns haben fast alle Praxen Aufnahmestopp selbst für Zugezogene, mit und ohne „Warteliste“ (auf die sogar Patienten mit aktiver Krebserkrankung kommen!). Ich versuche, die Leute noch unterzubringen, aber auch wir kommen zunehmend an Grenzen. Und da gleichzeitig suggeriert wird, dass Ärzte ihre Patienten ja eher als „Kunden“ sehen sollen, bekomme ich von einigen gleichzeitig Wunschzettel, was sie alles möchten (und was ich im Sinne des „Shared Decision Makings“ ja mit ihnen dann auch besprechen soll – siehe oben).
Man kann sich also dafür entscheiden, wenige Patienten intensiv zu betreuen (und dann zu schauen, wie man das abgerechnet bekommt), aber dann darf man sich nicht wundern, wenn der Rest dann in die Notdienste läuft, weil sich niemand um sie kümmert. Von der nicht stattfindenden Prävention ganz zu schweigen – denn dafür muss diese Leute ja auch irgendwer sehen. Um diese Situation zu vermeiden, bieten wir als „Service“ eine sehr ausgiebige Akut-Sprechstunde (quasi immer parallel zur Terminsprechstunde) an, damit auf jeden Fall die Leute mit akuten Problemen auch kommen können und nicht die Notdienste „verstopfen“. Was ich aber nur deswegen halbwegs hinbekommen kann, weil wir normalerweise zu drei Ärzten die Sprechstunde besetzen (einer für Akutsprechstunde, zwei mit Terminsprechstunde). Das ist organisatorisch oft stressig, aber die Leute sind dankbar, dass sie überhaupt eine Möglichkeit haben, gesehen zu werden (und die Notaufnahme im Krankenhaus ist dankbar, dass die Leute tagsüber nicht mit Bagatellen dorthin gehen).
Was mir wirklich helfen würde: eine ehrliche Diskussion, wie wir diese verschiedenen Aufträge (Patientenwunsch vs. Leitlinie/gesundheitlicher Outcome vs. Wirtschaftlichkeit vs. organisatorische Praktikabilität) miteinander in Einklang bringen können und sollen – und dann entsprechende Anpassung der Umstände. Das kann das von mir schon häufig geforderte Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel oder eine Zuckersteuer sein, damit die Lebensstiländerung einfacher wird. Oder eine bessere Unterstützung in der Beratung (z. B. besser verfügbare Ernährungsberatung/Coaching), damit die Patienten die Sachen besser umsetzen können.
Und wir müssen auch ehrlich die Grenzen der modernen Medizin besprechen – nicht alles kann man mit Medikamenten wirklich umsetzen (und ja, es gibt auch Neben- und Wechselwirkungen, die auch die Therapie schwieriger machen) – und nicht alles ist finanzierbar. Laut dem Instagram-Account des RKI geben inzwischen über 50 Prozent der Erwachsenen in Deutschland an, unter einer chronischen Erkrankung zu leiden. Das kann einfach nicht finanzierbar sein auf Dauer!
Deswegen mein Appell: Wir müssen als Gesellschaft dringend diskutieren, was wir von Ärzten wollen und wie man das umsetzen kann. Denn, um es mit Immanuel Kant auszudrücken: Der Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.
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