Im Rettungswesen ist der Tod allgegenwärtig. Manchmal kann man ihm ein Schnippchen schlagen – ein anderes Mal ist es zu spät. Wie sich meine Haltung zum Sterben im Laufe der Jahre verändert hat.
Dreißig Jahre. Nein, einunddreißig sind es am ersten September 2025. Eine Zeit, in der andere ein ganzes Leben führen, in der ich selbst unzähligen Leben begegnet bin – oft an deren äußerster Grenze. Es gibt Momente, da denke ich, der Tod und ich sind alte Bekannte oder sogar mehr: Wir sind Gegner in einer Art Schachspiel, dessen Regeln sich ständig ändern, und doch sitzen wir Nacht für Nacht am selben Tisch.
Jeder, der im Rettungsdienst arbeitet, wird früher oder später an diesen Punkt kommen: Man erkennt den Tod nicht mehr nur als abstrakten Endpunkt auf dem Stundenplan des Universums. Man sieht ihn, riecht ihn oder spürt ihn im Nacken, wenn die Stille in einem Raum zu laut wird. Irgendwann beginnt man, mit ihm zu sprechen. Auf unzähligen Einsätzen bin ich ihm in Gestalt eines schmallippigen Todesengels begegnet. Er besitzt in meiner Vorstellung nachtschwarze Flügel. Sein Antlitz aus farblosem Neon gleicht einem flirrenden Hologramm, versteckt unter der schwarzen Kapuze seines Capes. Ein Rinnsal Blut tropft als Zeichen gefallener Seelen die Wange hinunter. Er wartet geduldig, kennt weder Eile noch Bosheit. Er ist weder Freund noch Feind. Aber er ist immer da.
Wenn ich zurückblicke, sehe ich eine Kette von Begegnungen. Jede einzelne wie ein Lichtschimmer im Nebel. Menschen, die ich halten durfte, wenn sie im Sterben lagen. Manche klammerten sich verzweifelt an das Leben, krallten sich fest wie Ertrinkende. Andere ließen los mit einer Sanftheit, die mich jedes Mal erschüttert hat. Ich habe gelernt, dass das Sterben kein Sturz ins Bodenlose ist, sondern oft ein langsames Verblassen, ein leises Hinübergleiten – manchmal begleitet von einer tiefen Stille, manchmal von Stimmen, die in den Raum flüstern, als wollten sie den Moment nicht gehen lassen.
Der therapeutische Grundsatz des Lebens im Hier und Jetzt wurde mein Rettungsring. Im Einsatz zählt nur die Gegenwart. Pläne, Sorgen, Erinnerungen – alles fällt ab wie Staub, wenn das Piepsen des EKG-Monitors die Zeit in winzige, pochende Portionen zerlegt. Es gibt nur diesen einen unwiederholbaren Moment, in dem wir alles geben, alles hoffen und alles riskieren.
Ich habe unzählige Male mit aller Kraft, Technik, Wissen, Medikamenten, Schweiß und Herzblut gegen ihn gekämpft. Ich habe seine Angriffe pariert und ihm das eine oder andere Mal ein Leben abgerungen. Ihn aus Wohnzimmern, Schlafzimmern, Unfallwracks geworfen, als hätte ich die Oberhand. In solchen Momenten spüre ich einen Rausch – als hätte ich den Tod selbst überlistet. Aber das sind nur Illusionen und Momentaufnahmen, denn am Ende zieht der Todesengel den Mantel ein wenig fester um sich und nimmt, was nicht mehr zu halten war. Er macht dies ohne Triumph, ohne Bitterkeit. Und ich stehe leer und erschöpft da und frage mich, warum es diesmal wieder nicht gereicht hat.
Mit jedem Jahr und jeder Niederlage, ist meine Ehrfurcht vor ihm gewachsen. Es ist eine eigenartige Intimität, die sich zwischen uns entwickelt hat: Ich respektiere ihn wie einen alten Rivalen, der alle Karten kennt und nie die Fassung verliert.
Doch was bleibt, ist etwas Unverhandelbares: Meine Angst vor dem eigenen Tod. Ich kann Leben retten und den Herzschlag zurückholen, auch das Bewusstsein oder sogar einen Funken Hoffnung. Aber ich kann mir selbst keine Immunität verschaffen. Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem der Todesengel am Fußende meines eigenen Bettes stehen wird – und ich frage mich oft, was dann in mir vorgehen wird: Werde ich kämpfen? Werde ich flehen? Werde ich loslassen? Oder werde ich dem Tod, wie einst der Brandner Kasper, einen Kirschbrand anbieten und nach einer ausreichenden Menge versuchen, ihn bei einer Runde Karten übers Ohr zu hauen?
Die Begegnungen mit dem Tod in all seinen Gestalten – im Gesicht eines Kindes, in den Händen eines Greises, im zitternden Atem einer Frau, die gerade noch gelacht hat – sie haben Spuren hinterlassen. Der Tod ist kein Fremder mehr. Aber er bleibt unheimlich, weil er mich immer wieder an meine eigene Verletzlichkeit erinnert. Er ist das einzige Gegenüber, dem ich niemals gewachsen sein kann.
Ich habe lange geglaubt, mit den Jahren würde meine Angst vor dem Tod abnehmen, weil ich ihm so oft begegnet bin. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je älter ich werde, desto deutlicher spüre ich seine Präsenz, und desto realer wird seine Annäherung. Die Distanz meiner Lebensjahre, die früher noch tröstete, schrumpft – der Tod wird greifbarer und ragt als dunkler Horizont immer häufiger in mein Blickfeld. Die Angst wächst mit jedem Jahr, weil sie nicht mehr hypothetisch, sondern Teil meines eigenen Schattens ist. Auch, weil ich in den ganzen Jahrzehnten gesehen habe, wie Menschen meines Bekannten- und Freundeskreises einfach so ohne erdenklichen Grund sterben (wie ich bereits in diesem Artikel berichtet habe). Diese Angst drängt mich, jeden Tag bewusster zu leben, ist aber auch schwerer zu ignorieren. Vielleicht ist der Preis der Erfahrung nicht, dass der Tod an Schrecken verliert, sondern dass er an Kontur gewinnt.
Lange habe ich ihn als Gegner betrachtet, als ungebetenen Gast, den ich aus dem Haus jagen muss. Heute weiß ich: Der Tod ist Teil des Lebens. Ohne ihn wäre alles beliebig, ausgedehnt ins Unendliche, ohne Dringlichkeit oder Farbe. Wir brauchen seine Gegenwart, um das Leben wirklich zu begreifen und zu schätzen.
Manchmal – und den Satz hat mir Peter Safar mitgegeben – manchmal braucht auch der Tod Hilfe beim Timing. Es gibt Situationen, in denen der rettende Griff zum Defibrillator, zum Beatmungsbeutel oder zum Ampullarium nicht mehr ist als eine höfliche Geste – und in anderen Momenten, da ringe ich den Tod für Minuten oder Stunden nieder, damit jemand noch ein Stück weiter gehen kann in diesem Leben. Ich bin dann Helfer, Brückenbauer und vielleicht auch Mittler zwischen Abgrund und Morgenlicht.
Wenn ich nach einem langen Nachtdienst nach Hause fahre, die Stadt noch schläft und das erste Licht den Nebel rosa färbt, denke ich oft an all die Leben, die ich begleitet habe, an die vielen Abschiede, die vielen kleinen Siege und die noch zahlreicheren Niederlagen. Der Tod bleibt mein Schatten, Kritiker und stiller Begleiter. Aber er ist kein Feind, sondern der letzte Wächter am Tor, der manchmal mit mir ringt und manchmal nur zuschaut, wie ich mein Bestes gebe.
Vielleicht ist das, was bleibt, keine Versöhnung, sondern eine stille Übereinkunft: Ich tue, was ich kann. Ich lebe, solange ich darf. Und ich hoffe, dass ich – wenn mein eigener Moment kommt – nicht in Panik gerate, sondern die Hand reiche, so wie ich es bei anderen getan habe. Vielleicht gelingt es mir dann, loszulassen. Vielleicht nehme ich dann Abschied – nicht als Verlierer, sondern als Teilhaber am großen Ganzen.
Bis dahin aber lebe ich im Hier und Jetzt, zwischen Abgrund und Morgenlicht. Denn hier geschieht das Leben. Ich umarme das Leben, auch wenn ich weiß, dass ich es nie festhalten kann. Ich sage Worte, die ausgesprochen werden müssen, halte Hände, die gehalten werden wollen, und blicke dem Todesengel ruhig entgegen – wissend, dass er kein Gegner ist, sondern der, der am Ende alles rund macht.
Und hier, am Rande des Unsagbaren, finde ich, was wirklich zählt: Demut, Mitgefühl, die Fähigkeit zum Loslassen. Vielleicht auch – so seltsam es klingt – einen Funken Zuversicht.
Der Tod ist kein Feind, aber manchmal muss man ihm beim Timing helfen.– Peter Safar
Bildquelle: Midjourney